Mister Aufziehvogel
Unterseeboot setzte sich in Bewegung, und schon einen Augenblick später tauchte es ab und wühlte eine große Fläche Meeres schaumig, als habe es kaum so lange warten können, bis die Männer unter Deck und die Luken dicht waren. Eine Membran aus Meerwasser zog sich über das lange, schmale Deck von Bug bis achtern, der Kommandoturm glitt steil hinab, zerschnitt das dunkelblaue Wasser, und zuletzt tauchten die Antenne und das Sehrohr unter, als wollten sie mit einem Ruck jede Spur ihrer Anwesenheit löschen. Kurze, nervöse Wellen störten noch eine Zeitlang die Oberfläche des Meeres, aber bald legten sich auch sie, und zurück blieb nur die ruhige, nachmittägliche See.
Auch nachdem das U-Boot - mit derselben verblüffenden Plötzlichkeit, die sein Erscheinen gekennzeichnet hatte - wieder abgetaucht war, starrten die Passagiere gebannt auf die unendliche Wasserfläche und rührten sich nicht vom Fleck. Nicht einer von ihnen räusperte sich. Der Kapitän gewann seine Geistesgegenwart wieder und erteilte dem Navigationsoffizier einen Befehl, den dieser wiederum an den Maschinenraum weitergab, und nach einem längeren Anfall von Geknirsche und Geratter sprang die uralte Maschine schließlich an, wie ein Hund, den sein Herr mit einem Tritt aus dem Schlaf gerissen hat.
Mit angehaltenem Atem erwartete die Besatzung des Transportschiffs jeden Augenblick einen Torpedoangriff. Die Amerikaner konnten einfach ihre Pläne geändert und sich gesagt haben, daß es weit effektiver und bequemer wäre, das Schiff zu torpedieren, als sich mit einem zeitraubenden Artilleriebeschuß aufzuhalten. Das Schiff fuhr einen engen Zickzackkurs, und der Kapitän und der Navigationsoffizier suchten mit dem Fernglas die Meeresoberfläche nach der tödlichen weißen Kielspur eines Torpedos ab. Aber es kam kein Torpedo. Zwanzig Minuten, nachdem das U-Boot unter den Wellen verschwunden war, begannen die Menschen endlich, sich von dem Todesfluch zu befreien, der auf ihnen gelastet hatte. Anfangs konnten sie es noch nicht recht glauben, aber nach und nach begriffen sie, daß es die Wahrheit war: sie waren dem Schlund des Todes entronnen. Nicht einmal der Kapitän konnte sich erklären, warum die Amerikaner den Angriff so plötzlich abgeblasen hatten. Was konnte sie nur veranlaßt haben, ihre Pläne zu ändern? (Erst später wurde klar, daß wenige Augenblicke, bevor das Feuer eröffnet worden wäre, ein Funkspruch vom Hauptquartier eingegangen war, daß außer im Falle eines Angriffs alle Kampfhandlungen einzustellen seien. Die japanische Regierung hatte den Alliierten telegraphiert, sie akzeptiere die Potsdamer Erklärung und sei zur bedingungslosen Kapitulation bereit.) Von der unerträglichen Anspannung befreit, brachen mehrere Passagiere dort, wo sie standen, auf dem Deck zusammen und stimmten ein lautes Wehgeschrei an, aber die meisten konnten weder lachen noch weinen. Mehrere Stunden - zum Teil sogar mehrere Tage lang - blieben sie völlig geistesabwesend, horchten nur dem Dorn eines langen, gewundenen Alptraums nach, der sich unbarmherzig in ihre Lunge, ihr Herz, ihr Rückenmark, ihr Gehirn, ihren Schoß bohrte. Während all das geschah, blieb die kleine Muskat Akasaka, tief und fest eingeschlafen, in den Armen ihrer Mutter. Sie schlief zwanzig Stunden durch, als habe man sie bewußtlos geschlagen. Ihre Mutter rief und klatschte ihr auf die Wangen, aber ohne jedes Resultat. Sie hätte ebensogut auf den Grund des Meeres gesunken sein können. Die Intervalle zwischen ihren Atemzügen wurden länger und länger, und ihr Puls verlangsamte sich immer mehr. Ihr Atmen war kaum noch hörbar. Doch als das Schiff in Sasebo einlief, wachte sie unvermittelt auf, als habe eine gewaltige Kraft sie wieder in diese Welt zurückgezerrt. Und so wurde Muskat nicht selbst Zeugin des abgebrochenen Angriffs und des Verschwindens des amerikanischen U-Bootes. Sie erfuhr alles erst viel später, von ihrer Mutter. Als der Frachter endlich in den Hafen von Sasebo tuckerte, war es kurz nach zehn am Morgen des 16. August, des Tages nach dem Nichtangriff. Im Hafen herrschte eine unheimliche Stille, und niemand kam heraus, um das Schiff zu begrüßen. Nicht einmal in der Flakstellung, die die Hafeneinfahrt sicherte, waren Lebenszeichen festzustellen. Die Sommersonne durchglühte mit stummer Inbrunst die Erde. Die ganze Welt schien von tiefer Lähmung befallen zu sein, und manche Passagiere an Bord hatten das Gefühl, sie seien versehentlich im Totenreich gelandet. Nach
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