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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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und der anderen Welt nicht spüren konnte? Aber weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Noch tiefer zu denken ging über seine Kräfte. Die Erschöpfung lastete schwer und erstickend auf ihm, wie eine durchweichte Decke. Es kamen ihm keine Gedanken mehr, und er lag einfach nur da, atmete den Duft des Grases ein, lauschte dem Sirren der Heuschreckenflügel und spürte durch die Haut hindurch die dichte Membran aus Schatten, die ihn überzog. Und endlich wurde sein Bewußtsein in den tiefen Schlaf des Nachmittags gesogen.
     
    Das Transportschiff hatte, wie befohlen, die Maschinen gestoppt und war bald auf dem Ozean zum Stillstand gekommen. Seine Chance, ein so schnelles, modernes Unterseeboot abzuhängen, hätte eins zu zehntausend betragen. Die Bordkanone und das Maschinengewehr des U-Boots zielten noch immer auf das Transportschiff, die Mannschaft war gefechtsbereit. Dennoch schwebte eine seltsame Gelassenheit über den beiden Schiffen. Die Besatzung des U-Boots stand in voller Sicht aufgereiht an Deck und beobachtete den Transporter mit einer Miene, als hätte man endlos Zeit. Viele Matrosen hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Stahlhelm aufzusetzen. Es war fast völlig windstill an diesem Sommernachmittag, und jetzt, da beide Maschinen gestoppt hatten, war nichts als das träge Klatschen zu vernehmen, mit dem die Wellen gegen die Rümpfe der zwei Schiffe schlugen. Der Transporter signalisierte dem Unterseeboot: »Dies ist ein Transportschiff voll unbewaffneter Zivilisten. Wir haben weder Kriegsgerät noch Armeeangehörige an Bord. Wir haben zu wenig Rettungsboote.« Darauf antwortete das U-Boot brüsk: »Nicht unser Problem. Evakuiert oder nicht, aber in exakt zehn Minuten wird das Feuer eröffnet.« Damit endete der Signalaustausch zwischen den Schiffen. Der Kapitän des Transporters beschloß, seine Passagiere nicht über den Stand der Dinge zu informieren. Was hätte es auch genutzt? Mit viel Glück würden ein paar von ihnen vielleicht davonkommen, aber die meisten würden mit diesem elenden Pott auf den Grund des Meeres gerissen werden. Der Kapitän hätte sich allzugern einen letzten Drink gegönnt, aber die Whiskyflasche - ein guter alter Scotch, den er sich für besondere Gelegenheiten aufsparte - lag in seiner Kajüte, in einer Schreibtischschublade, und ihm blieb nicht mehr die Zeit, sie zu holen. Er nahm die Mütze ab und sah zum Himmel, in der Hoffnung, dort werde wundersamerweise ein Geschwader von japanischen Kampfflugzeugen auftauchen. Aber es war wohl kein Tag für Wunder. Der Kapitän hatte sein möglichstes getan. Er dachte wieder an seinen Whisky. Als die zehnminütige Gnadenfrist fast abgelaufen war, entstand auf dem Deck des U-Boots eine unerklärliche Unruhe. Die auf dem Kommandodeck aufgereihten Offiziere wechselten hastig Worte miteinander, und einer der Offiziere stieg aufs Hauptdeck hinunter und rannte, Kommandos brüllend, zwischen den Matrosen hin und her. Wo er hinkam, breiteten sich unter den gefechtsbereiten Männern konzentrische Wellen von Bewegung aus. Ein Matrose schüttelte weitausholend den Kopf und hämmerte mit der geballten Faust auf das Rohr der Bordkanone. Ein anderer nahm seinen Stahlhelm ab und starrte zum Himmel hinauf. Das Verhalten der Männer hätte Wut, Freude oder Enttäuschung bedeuten können. Die Passagiere des Transportschiffes konnten nicht erraten, was da vor sich ging oder worauf das alles hinauslaufen würde. Wie das Publikum einer Pantomime, zu der es kein Programmheft gab (die aber eine äußerst wichtige Botschaft enthielt), verfolgten sie mit angehaltenem Atem jede Bewegung der Matrosen und hofften, darin irgendeinen Hinweis zu entdecken. Schließlich begannen die Wellen der Erregung, die unter den Matrosen entstanden waren, sich wieder zu legen, und auf einen Befehl von der Kommandobrücke hin wurden in aller Eile die Granaten wieder aus dem Bereich der Bordkanone entfernt. Die Männer betätigten die Kurbeln und schwenkten das Kanonenrohr vom Transportschiff weg, bis es wieder genau zum Bug des U-Boots zeigte, dann verschlossen sie das grauenerregende schwarze Loch der Mündung. Die Granaten wurden wieder unter Deck geschafft, und die Besatzung rannte zu den Luken. Ganz anders als zuvor, taten sie jetzt alles mit größter Eile und Effizienz: ohne Geplauder und überflüssige Bewegungen.
    Die Maschinen des U-Boots sprangen mit abruptem Donnern an, und fast im selben Moment heulte die Sirene das Signal: »Alle Mann unter Deck!« Das

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