Mister Aufziehvogel
jahrelangem Aufenthalt in der Fremde konnten sie das Land ihrer Ahnen nur noch stumm anstarren. Am 15. August um zwölf Uhr mittags hatte der Kaiser im Rundfunk verkündet, daß der Krieg zu Ende war. Sechs Tage zuvor war die nahegelegene Stadt Nagasaki von einer einzigen Atombombe ausgelöscht worden. Das Phantomreich Mandschukuo versank bereits in den Nebeln der Vergangenheit. Und zufällig in den falschen Sektor der Drehtür geraten, würde der Tierarzt mit dem Mal auf der Wange das Schicksal Mandschukuos teilen.
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J ETZT ALSO ZUM NÄCHSTEN PROBLEM
(MAY KASAHARAS STANDPUNKT: 2)
Hallo mal wieder, Mister Aufziehvogel.
Haben Sie inzwischen überlegt, wo ich sein und was ich hier tun könnte, wie ich ’s Ihnen am Ende von meinem letzten Brief aufgetragen habe? Ist Ihnen irgendwas dazu eingefallen?
Was soll’s, ich geh wohl einfach mal davon aus, daß Sie nicht die leiseste Ahnung haben - was sicherlich auch stimmt.
Also bringe ich ’s hinter mich und sag ’s Ihnen am besten direkt. Ich arbeite in - sagen wir - einer ganz bestimmten Fabrik. Einer großen Fabrik. Sie liegt in einer ganz bestimmten Provinzstadt - oder besser gesagt, in den Bergen am Rand einer ganz bestimmten Provinzstadt, von der aus man das Japanische Meer sieht. Lassen Sie sich vom Wort » Fabrik « nicht in die Irre führen. Es ist nichts von der Art, wie Sie sich ’s bestimmt vorstellen: eine von diesen machomäßigen Angelegenheiten voll von riesigen supermodernen Maschinen, die vor sich hinrattern, mit laufenden Fließbändern und qualmenden Schornsteinen. Sie ist groß, das schon, aber die Anlage ist über ein großes Areal verteilt, und sie ist hell und leise. Sie produziert überhaupt keinen Qualm. Ich hätte früher nie gedacht, daß es auf der Welt so ausgedehnte, weitläufige Fabriken gibt. Die einzige andere Fabrik, die ich je gesehen hab, war die Bonbonfabrik in Tokio, die wir in der Grundschule einmal besichtigt haben, und das einzige, was ich davon noch weiß, ist, daß es da fürchterlich laut und eng war und die Leute mit trübsinniger Miene vor sich hinackerten. Für mich war eine » Fabrik « also immer wie so ein Bild im Geschichtsbuch zum Thema » Industrielle Revolution « . Die Leute, die hier arbeiten, sind fast alles Mädchen. In der Nähe gibt’s ein separates Gebäude, ein Labor, wo Männer in weißen Kitteln in der Produktentwicklung arbeiten und immer wahnsinnig ernst und wichtig gucken, aber die machen nur einen sehr kleinen Teil der Belegschaft aus. Alle übrigen sind Mädchen, so zwischen sechzehn, siebzehn und Anfang zwanzig, und vielleicht siebzig Prozent von ihnen wohnen auf dem Fabrikgelände in firmeneigenen Wohnheimen, so wie ich. Jeden Morgen mit dem Bus oder dem Auto vom nächsten Ort hier rauszufahren ist verflucht mühsam, und die Wohnheime sind hübsch. Die Gebäude sind neu, die Zimmer sind alle Einzel-, das Essen ist gut und man kann sich aussuchen, was man will, es ist alles da, was man braucht, und wenn man bedenkt, was was man alles geboten bekommt, zahlt man für Essen und Wohnen wirklich wenig. Es gibt einen beheizten Swimmingpool und eine Bücherei, und wenn man will (ich will aber nicht), kann man Sachen wie Teezeremonie und Ikebana lernen, und man kann sogar alle möglichen Mannschaftssportarten treiben, und so ziehen viele Mädchen, die als Pendlerinnen angefangen haben, früher oder später in ein Wohnheim. Alle fahren am Wochenende wieder nach Haus, um bei ihren Angehörigen zu essen oder ins Kino zu gehen, oder sich mit ihrem Freund zu treffen und so, und deswegen verwandelt sich der Laden jeden Samstag in eine leere Ruine. Es sind hier nicht allzu viele wie ich, ohne Familie, zu der sie übers Wochenende fahren können. Aber wie gesagt, ich mag die weite, hohle, leere Atmosphäre, die am Wochenende herrscht. Ich kann den ganzen Tag lesen oder schön laut Musik hören oder über die Hügel wandern, oder, wie jetzt, am Schreibtisch sitzen und Ihnen schreiben, Mister Aufziehvogel.
Die Mädchen, die hier arbeiten, sind alles Einheimische - das heißt, Bauerntöchter. Na ja, vielleicht nicht jede einzelne von ihnen, aber größtenteils sind es glückliche, gesunde, optimistische, hart arbeitende Mädchen. Hier in dieser Präfektur gibt’s nicht sehr viele große Betriebe, deswegen sind die Mädchenfrüher, wenn sie mit der Mittelschule fertig waren, in die Stadt gezogen und haben sich dort einen Job gesucht. Das Ergebnis war, daß die Jungs, die hier im Ort blieben, niemand zum
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