Mister Aufziehvogel
und fing an, das Loch, das der große Mann zugefüllt hatte, wieder aufzugraben. Der Mann hatte die Schaufel an den Stamm der Kiefer gelehnt zurückgelassen. Das frisch zugeschüttete Loch wieder aufzugraben war eigentlich gar nicht so anstrengend, aber schon vom Aufnehmen der schweren Schaufel kam der Junge ganz außer Atem. Und er hatte keine Schuhe an. Seine Fußsohlen waren eisig kalt. Trotzdem gab er nicht auf, sondern schnaufte und schaufelte immer weiter, bis er das Stoffbündel, das der Mann vergraben hatte, wieder freigelegt hatte.
Der Aufziehvogel war verstummt. Der Mann, der auf den Baum gestiegen war, war nicht wieder heruntergekommen. Die Nacht war so still, daß es dem Jungen fast in den Ohren weh tat. Der Mann war offenbar einfach verschwunden. Aber schließlich ist das ein Traum, dachte der Junge. Es war kein Traum, daß der Aufziehvogel gerufen hatte und der Mann, der wie sein Vater aussah, auf den Baum geklettert war. Diese Dinge waren wirklich passiert. Also konnte es zwischen dem hier und dem dort gar keine Verbindung geben. Aber trotzdem war’s komisch: Da war er nun in einem Traum und grub das wirkliche Loch auf. Wie sollte er da unterscheiden können, was ein Traum war und was keiner? War diese Schaufel eine wirkliche Schaufel? Oder eine Traumschaufel?
Je länger er nachdachte, desto weniger begriff er. Also hörte der Junge auf nachzudenken und widmete seine ganze Kraft dem Lochgraben. Endlich berührte die Schaufel das Stoffbündel.
Jetzt wurde der Junge sehr vorsichtig und achtete darauf, daß er das Bündel nicht beschädigte, während er es vollständig freilegte. Dann kniete er sich hin und hob es aus dem Loch. Am Himmel war keine einzige Wolke, und es war niemand da, der das feuchte Licht des Vollmondes, das sich auf den Boden ergoß, abgehalten hätte. Im Traum war er frei von Angst. Das Gefühl, das ihn machtvoll beherrschte, war Neugier. Er öffnete das Bündel und fand darin ein menschliches Herz. Er erkannte seine Form und Farbe nach der Abbildung, die er in seiner Enzyklopädie gesehen hatte. Das Herz war noch frisch und lebendig und bewegte sich, wie ein erst vor kurzem ausgesetzter Säugling. Sicher, es trieb kein Blut durch seine durchtrennte Arterie, aber es pochte noch immer kräftig. Der Junge hörte ein lautes Hämmern in seinen Ohren, aber das war das Geräusch seines eigenen Herzens. Das begrabene Herz und das Herz des Jungen pochten und pochten vollkommen im Gleichtakt, als hielten sie Zwiesprache miteinander. Der Junge beruhigte seine Atmung und sagte sich entschieden: »Du hast keine Angst davor. Es ist einfach ein menschliches Herz, mehr nicht. Genau wie in der Enzyklopädie. Jeder hat so eins. Ich habe so eins.« Mit ruhigen Händen wickelte der Junge das schlagende Herz wieder in den Stoff, legte es in das Loch zurück und bedeckte es vollständig mit Erde. Die Erde strich er mit seinem nackten Fuß glatt, damit niemand erkennen konnte, daß da ein Loch gewesen war, und die Schaufel stellte er wieder so an den Baum, wie er sie vorgefunden hatte. Der Boden war nachts wie Eis. Der Junge zog sich am Fenstersims hoch und kehrte in sein warmes, freundliches Zimmer zurück. Er wischte sich über dem Papierkorb den Lehm von den Füßen, damit er die Laken nicht schmutzig machte, und wollte schon ins Bett kriechen. Aber da merkte er, daß schon jemand darin lag. Jemand schlief in seinem Bett, unter seinen Decken, an seinem Platz. Mit einemmal böse, schlug der Junge die Decke zurück. »He, du, raus da!« wollte er den Schlafenden anfahren, »Das ist mein Bett!« Aber es kam kein Ton aus ihm heraus, denn der, den er im Bett vorgefunden hatte, war er selbst. Er lag schon in seinem Bett und schlief, ruhig atmend. Der Junge blieb erstarrt stehen, er fand keine Worte. Wenn ich hier schon schlafe, wo soll dann dieses »ich« schlafen? Zum erstenmal empfand der Junge nun Angst, eine Angst, die ihm wie Eiseskälte bis ins Innerste drang. Er wollte schreien, aus Leibeskräften losschreien, so daß sein schlafendes Ich und auch sonst jeder im Haus aufwachte. Aber seine Stimme tat einfach nicht mit. So krampfhaft er sich auch bemühte, er brachte keinen Ton heraus. Nicht den geringsten Laut. Also packte er sein schlafendes Ich bei der Schulter und schüttelte es so fest, wie er nur konnte. Aber der schlafende Junge wachte einfach nicht auf. Mehr konnte er nicht tun. Der Junge zog seine Wolljacke aus und warf sie auf den Boden. Dann schob er sein anderes, schlafendes Ich unter
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