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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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da schon lange gewohnt - wir beide und der Kater. Warum hat er gerade jetzt auf einmal beschlossen, uns zu verlassen? Warum ist er nicht schon viel früher gegangen?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht hat sich der Fluß geändert. Vielleicht hat irgend etwas den Fluß blockiert.«
    »Den Fluß?«
    »Ich weiß noch nicht, ob Ihr Kater noch am Leben ist, aber in einem bin ich mir absolut sicher: Er befindet sich nicht mehr in der näheren Umgebung Ihres Hauses. In diesem Viertel werden Sie den Kater niemals finden.« Ich nahm die Tasse auf und trank einen Schluck von meinem mittlerweile lauwarmen Kaffee. Vor den Fenstern des Tea-room ging ein feiner, nebelartiger Regen nieder; der Himmel war ganz mit dunklen, tiefhängenden Wolken bedeckt. Eine trostlose Prozession von Menschen und Schirmen strömte die Fußgängerbrücke hinauf und hinunter. »Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte sie.
    Ich legte die Rechte mit der Handfläche nach oben auf den Tisch, da ich annahm, sie habe vor, sie zu lesen. Statt dessen streckte sie ihrerseits die Hand aus und legte sie flach auf meine. Dann schloß sie die Augen und blieb völlig still, als machte sie einem treulosen Liebhaber stumme Vorwürfe. Die Kellnerin kam und füllte meine Tasse auf, wobei sie so tat, als sähe sie nicht, was Malta Kano und ich da trieben. Von den Nachbartischen warfen uns die Leute verstohlene Blicke zu. Ich hoffte, es seien keine Bekannten von mir in der Nähe.
    »Ich möchte, daß Sie sich eine Sache vorstellen, die Sie heute, bevor Sie hierhergekommen sind, gesehen haben.«
    »Eine Sache?«
    »Ein beliebiges Ding.«
    Ich dachte an das geblümte Minikleid, das ich in Kumikos Kleiderkarton gesehen hatte. Warum mir ausgerechnet das einfiel, weiß ich nicht. Ich verfiel einfach darauf.
    Wir hielten unsere Hände noch fünf Minuten lang so aneinander - fünf Minuten, die mir sehr lang vorkamen, und zwar nicht so sehr, weil die Leute mich anstarrten, sondern weil die Berührung von Malta Kanos Hand etwas Beunruhigendes an sich hatte. Es war eine kleine Hand, weder warm noch kalt. Ihre Berührung hatte weder die Intimität der Hand einer Geliebten noch die Nüchternheit einer Arzthand. Sie hatte auf mich dieselbe Wirkung wie ihre Augen, sie verwandelte mich in ein unbewohntes Haus. Ich fühlte mich leer: keine Möbel, keine Gardinen, keine Teppiche. Nur ein leeres Gefäß. Endlich zog Malta Kano ihre Hand von meiner fort und atmete mehrmals tief durch. Dann nickte sie mehrere Male.
    »Herr Okada«, sagte sie, »ich glaube, Sie treten gegenwärtig in eine Phase Ihres Lebens, in der sich viele verschiedene Dinge ereignen werden. Das Verschwinden Ihres Katers ist nur der Anfang.«
    »Verschiedene Dinge«, sagte ich. »Gute Dinge oder schlimme Dinge?« Nachdenklich neigte sie den Kopf leicht zur Seite. »Gute Dinge und schlimme Dinge. Schlimme Dinge, die anfangs gut erscheinen, und gute Dinge, die anfangs schlimm erscheinen.«
    »Ich finde, das klingt ziemlich allgemein«, sagte ich. »Können Sie mir nichts Konkreteres sagen?«
    »Ja, das, was ich da sage, klingt wohl sehr allgemein«, sagte Malta Kano. »Aber schließlich, Herr Okada, sprechen wir von der Essenz der Dinge, und da kann man häufig nur in allgemeinen Begriffen sprechen. Konkrete Dinge verdienen ohne Zweifel unsere Aufmerksamkeit, doch sie sind oft kaum mehr als Trivialitäten. Nebendinge. Je weiter man versucht, in die Ferne zu blicken, desto allgemeiner werden die Wahrnehmungen.«
    Ich nickte stumm - und ohne die leiseste Ahnung zu haben, wovon sie eigentlich redete.
    »Gestatten Sie mir, Sie wieder anzurufen?« fragte sie.
    »Sicher«, sagte ich, auch wenn ich in Wirklichkeit nicht den geringsten Wunsch verspürte, von wem auch immer angerufen zu werden. »Sicher« war so ziemlich die einzige Antwort, die ich geben konnte.
    Sie nahm ihren roten Vinylhut vom Tisch, dann die Handtasche, die darunter verborgen gewesen war, und stand auf. Unsicher, wie ich darauf reagieren sollte, blieb ich sitzen.
    »Eine kleine Information wenigstens kann ich Ihnen schon geben«, sagte Malta Kano zu mir herab, nachdem sie sich den Hut aufgesetzt hatte. »Sie werden Ihre gepunktete Krawatte wiederfinden, aber nicht in Ihrem Haus.«

4
    H OHE TÜRME UND TIEFE BRUNNEN
    (ODER FERN VON NOMONHAN)
     
    Zu Hause fand ich Kumiko gutgelaunt vor. Sehr gut gelaunt. Als ich von der Verabredung mit Malta Kano zurückkam, war es schon fast sechs, so daß ich keine Zeit mehr hatte, ein richtiges Abendessen vorzubereiten.

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