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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Modedesignerin zu finanzieren. Und als sie dieses Studium abgeschlossen hatte, gelang es ihr, eine Stelle in der Entwurfsabteilung eines Herstellers von anspruchsvoller Konfektion zu bekommen. Niemand zweifelte daran, daß sie kreatives Talent besaß. Nicht nur konnte sie gut zeichnen - die Ideen, die sie zu Papier brachte, waren originell und von einem ganz eigenen Stilempfinden geprägt. Sie hatte eine sehr genaue Vorstellung von dem, was sie schaffen wollte, und es war nie etwas Entlehntes, sondern stets ihre ganz eigene Schöpfung, und stets ging es völlig natürlich aus ihr hervor. Bis in die winzigsten Details beharrte sie auf ihrer jeweiligen Vision, mit der Unbeirrbarkeit eines Lachses, der einen breiten Fluß bis zur Quelle hinaufschwimmt. Zum Schlafen hatte sie keine Zeit. Sie liebte ihren Beruf und träumte nur von dem Tag, da sie sich als selbständige Modedesignerin würde etablieren können. Nie kam sie auf den Gedanken, Vergnügen außerhalb der Arbeit zu suchen: sie hatte nicht einmal eine Ahnung von den Dingen, die andere zu ihrem Vergnügen trieben. Schon bald erkannten ihre Vorgesetzten die hohe Qualität ihrer Arbeit und begannen, sich für ihre extravaganten, schwungvollen Entwürfe zu interessieren. Damit endeten ihre Lehrjahre, und ihr wurde die Leitung einer eigenen kleinen Abteilung anvertraut - eine höchst ungewöhnliche Beförderung. Jahr für Jahr konnte Muskat glänzende Leistungen vorweisen. Ihr Talent und ihre Energie erregten nicht nur innerhalb der Firma, sondern in der ganzen Branche immer größere Aufmerksamkeit. Die Modebranche war eine exklusive, aber zugleich auch gerechte Welt, eine Welt, die vom freien Wettbewerb regiert wurde. Der Erfolg eines Designers oder einer Designerin wurde durch einen einzigen Faktor bestimmt: die Anzahl der Vorbestellungen, die für die von ihm oder ihr entworfenen Modelle vor jeder Saison eingingen. Es konnten nie Zweifel daran bestehen, wer »gewonnen« und wer »verloren« hatte: Die Zahlen sagten alles. Muskat hatte nie das Gefühl, mit anderen zu konkurrieren, aber ihre Erfolgsbilanz sprach eine unmißverständliche Sprache.
    Bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Lebensjahr widmete Muskat ihre gesamte Energie und Aufmerksamkeit der Arbeit. Sie lernte durch ihren Beruf viele Menschen kennen, und mehrere Männer interessierten sich für sie, aber diese Beziehungen blieben stets oberflächlich und waren nur von kurzer Dauer. Es gelang Muskat nie, für lebendige Menschen ein tieferes Interesse aufzubringen. Ihr Bewußtsein war angefüllt mit Bildern von Kleidern, und die Skizzen eines Mannes berührten sie weit nachhaltiger, als es der Mann selbst jemals vermocht hätte. Mit siebenundzwanzig aber lernte Muskat auf einer Neujahrsparty der Textilbranche einen merkwürdig aussehenden Mann kennen. Zwar waren seine Gesichtszüge durchaus ebenmäßig, aber sein Haar war ein einziger Urwald, und seine Nase und sein Kinn besaßen die kantige Härte von Steinwerkzeugen. Er sah eher wie ein religiöser Scharlatan als wie ein Modeschöpfer aus. Er war ein Jahr jünger als Muskat, spindeldürr und hatte unergründlich tiefe Augen, aus denen er die Leute mit einem aggressiven Blick anstarrte, der eigens dazu einstudiert zu sein schien, jeden in Verlegenheit zu bringen. Doch in diesen Augen konnte Muskat ihr eigenes Spiegelbild erkennen. Damals war jener Mann noch ein zwar vielversprechender, aber unbekannter Modedesigner, und sie sahen sich zum ersten Mal. Gehört hatte sie natürlich schon von ihm. Er habe ein einzigartiges Talent, hieß es, aber er sei arrogant, egozentrisch und streitsüchtig, und fast niemand habe etwas für ihn übrig.
    »Wir waren verwandte Seelen«, sagte sie. »Beide auf dem Kontinent geboren. Auch er war nach dem Krieg mit nichts als dem, was er auf dem Leib trug, nach Japan zurückverfrachtet worden - in seinem Fall aus Korea. Sein Vater war Berufssoldat gewesen, und die Nachkriegsjahre bedeuteten für die beiden eine Zeit bitterster Armut. Er hatte seine Mutter schon sehr früh verloren - sie war an Typhus gestorben -, daher wohl seine spätere Leidenschaft für Frauenkleidung. Er war begabt, aber mit Menschen konnte er einfach nicht umgehen. Da entwarf er also Damenmode, und kaum geriet er in die Nähe einer Frau, wurde er rot und benahm sich unmöglich. Mit anderen Worten: Wir waren beide versprengte Schafe, die den Kontakt zur Herde verloren hatten.«
    Sie heirateten im folgenden Jahr, 1963, und das Kind, das ihnen im Frühling des

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