Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
unbrauchbar. Der kleine Lederkoffer des Ermordeten enthielt nur frische Unterwäsche, ein paar Toilettenartikel, eine Mappe mit berufsbezogenen Unterlagen und eine Zeitschrift. In seiner Brieftasche befanden sich noch über hunderttausend Yen in bar und mehrere Kreditkarten, aber ein Notizbuch, das er bei sich gehabt haben mußte, war verschwunden. Spuren eines Kampfes waren in dem Zimmer nicht festzustellen. Die Polizei überprüfte den gesamten Bekanntenkreis des Opfers, aber eine Frau, die der Beschreibung des Empfangschefs entsprochen hätte, wurde nicht gefunden. Die wenigen Frauen, welche die Ermittlungsbeamten überhaupt ausfindig machen konnten, hatten keinen Anlaß zu Haß oder Eifersucht, und alle hatten sie ein solides Alibi. Es gab eine ganze Reihe von Leuten aus der Modebranche (eine Branche, die ohnehin nicht gerade für ihre herzliche Atmosphäre berühmt ist), die eine Abneigung gegen ihn hatten, aber anscheinend hatte keiner ihn ausreichend gehaßt, um ihn zu töten, und mit Sicherheit besaß niemand die Fertigkeiten, die erforderlich waren, um sechs Organe aus einem Körper herauszuschneiden.
    Selbstverständlich berichtete die Presse über die Ermordung eines so bekannten Modeschöpfers ausführlich - und nicht ohne eine gewisse Sensationslust -, aber um den Medienrausch, der um einen so bizarren Mordfall sonst ausgebrochen wäre, zu verhindern, sorgte die Polizei dafür, daß keine Informationen über die Organentnahme nach außen drangen. Zudem übte das exklusive Hotel offenbar einen gewissen Druck aus, damit es mit der Affäre möglichst wenig in Verbindung gebracht wurde. Und somit berichteten die Medien kaum mehr, als daß der Modeschöpfer in einem der Zimmer des Hotels erstochen worden sei. Eine Zeitlang ging das Gerücht um, es sei »etwas Abnormes« im Spiel gewesen, aber Genaueres drang nie an die Öffentlichkeit. Die Polizei führte eine umfangreiche Untersuchung durch, aber der Mörder wurde nie gefaßt, und kein Motiv zeichnete sich je ab. »Dieses Hotelzimmer ist wahrscheinlich immer noch versiegelt«, sagte Muskat.
     
    Im Frühling des darauffolgenden Jahres verkaufte Muskat die Firma - komplett mit Boutiquen, Lagerbestand und Markennamen - an ein großes Textilunternehmen. Als der Anwalt, der die Verhandlungen geführt hatte, Muskat den Vertrag zur Unterschrift vorlegte, setzte sie ohne ein Wort ihren Stempel darauf, mit kaum mehr als einem flüchtigen Blick auf die Kaufsumme. Als Muskat die Firma einmal aufgegeben hatte, stellte sie fest, daß sich ihre Leidenschaft für das Entwerfen restlos verflüchtigt hatte. Der heftige Strom von Verlangen, der einst den Sinn ihres Lebens ausgemacht hatte, war versiegt. Wenn sie gelegentlich noch einen Auftrag annahm, führte sie ihn mit Routine eines erstklassigen Profis aus, aber ohne eine Spur von Freude. Es war, als äße sie etwas völlig Fades. Sie hatte das Gefühl, man habe ihr die inneren Organe herausgerissen. Für diejenigen, die ihre frühere Energie und Kreativität erlebt hatten, war Muskat noch immer ein legendäre Gestalt, und aus diesem Kreise kamen auch weiterhin immer wieder Angebote, aber mit Ausnahme einiger weniger, die anzunehmen sie sich verpflichtet fühlte, lehnte sie alle ab. Auf Empfehlung ihres Steuerberaters investierte sie ihr Geld in Aktien und Immobilien, und ihr Vermögen nahm in diesen Jahren des Wirtschaftswachstums weiter zu.
    Nicht lange, nachdem sie die Firma verkauft hatte, starb ihre Mutter an einem Herzleiden. An einem heißen Augustnachmittag besprengte die alte Damen gerade den Vorplatz des Hauses, als sie plötzlich klagte, sie »fühle sich gar nicht gut«. Sie legte sich hin und schlief, beunruhigend laut schnarchend, ein paar Stunden, und kurz darauf war sie tot. Muskat und Zimt hatten nun niemanden mehr auf der Welt. Für über ein Jahr schloß Muskat sich im Haus ein, lag den ganzen Tag auf dem Sofa und starrte hinaus in den Garten, als versuchte sie, all die Unruhe und Friedlosigkeit ihres bisherigen Lebens wieder wettzumachen. Sie aß kaum etwas und schlief täglich zehn Stunden. Zimt, der unter normalen Umständen nun auf die höhere Schule gekommen wäre, kümmerte sich anstelle seiner Mutter um den Haushalt, spielte in seinen Arbeitspausen Sonaten von Mozart und Haydn und brachte sich mehrere Sprachen bei.
    Diese fast leere, stille Phase ihres Lebens dauerte schon ein Jahr, als Muskat durch Zufall entdeckte, daß sie eine besondere »Kraft« besaß: eine seltsame Fähigkeit, die ihr bis

Weitere Kostenlose Bücher