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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Jahrelang trug die junge Muskat nur abgelegte Kleidungsstücke ihrer älteren Cousinen - Handschuhe, Socken, selbst Unterwäsche. Zum Schreiben benutzte sie die Bleistiftstummel, die andere fortwarfen. Schon das allmorgendliche Aufwachen war eine Tortur für sie. Beim bloßen Gedanken, daß ein neuer Tag begann, wurde ihr eng ums Herz. Muskat wollte aus diesem Haus fortziehen und mit ihrer Mutter irgendwo allein wohnen - in bitterer Armut vielleicht, aber dafür frei von diesem ständigen moralischen Druck. Ihre Mutter jedoch unternahm nie den Versuch fortzuziehen. »Meine Mutter war immer ein aktiver Mensch gewesen«, sagte Muskat, »aber seit unserer Flucht aus der Mandschurei war sie nur noch eine leere Hülse. Es war, als habe sich alle Kraft, die sie zum Weiterleben benötigte, aus ihr verflüchtigt.« Zu nichts konnte sie sich mehr aufraffen. Ihr einziger Lebensinhalt bestand jetzt darin, Muskat immer und immer wieder von der glücklichen Vergangenheit zu erzählen, die hinter ihnen lag. Und so blieb es Muskat überlassen, auf eigene Faust nach Mitteln und Wegen zum Weiterleben zu suchen. Muskat hegte zwar keine Abneigung gegen das Lernen, nur interessierten sie die meisten Fächer nicht, die auf der Oberschule angeboten wurden. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es ihr irgend etwas nützen würde, sich den Kopf mit Geschichtsdaten, mit Regeln der englischen Grammatik oder geometrischen Formeln vollzustopfen. Ihr alles beherrschender Wunsch war, etwas Praktisches zu lernen und so schnell wie möglich unabhängig zu werden. Von ihren Klassenkameradinnen und deren unbekümmerter Freude am Schulalltag trennte sie eine tiefe Kluft.
    Das einzige, was sie wirklich interessierte, war Mode. Von früh bis spät kreisten ihre Gedanken um Kleidung. Nicht, daß sie es sich hätte leisten können, sich chic anzuziehen: Sie mußte sich damit begnügen, die Modezeitschriften, die sie irgendwie ergattern konnte, immer von neuem durchzusehen und Hefte mit Skizzen von Kleidern zu füllen, die sie entweder ähnlich in den Zeitschriften gesehen hatte oder sich selbst ausdachte. Sie wußte nicht, was sie an eleganter Kleidung eigentlich so gefesselt hatte. Vielleicht, sagte sie, kam es daher, daß sie als Kind in der Mandschurei immer mit der damals umfangreichen Garderobe ihrer Mutter gespielt hatte. Ihre Mutter war eine echte Kleidernärrin gewesen; sie hatte mehr Kimonos und Kleider besessen, als sie in all ihren Truhen und Schränken unterbringen konnte, und die kleine Muskat hatte sie in jedem unbeaufsichtigten Augenblick hervorgeholt und liebevoll berührt. Bei ihrer Abreise hatten sie die meisten dieser Kleider und Kimonos in der Mandschurei zurücklassen müssen, und die wenigen, die sie in ihre Rucksäcke hatten stopfen können, hatten sie unterwegs gegen Lebensmittel eintauschen müssen. Jedesmal hatte ihre Mutter das als nächstes zu opfernde Stück vor sich ausgebreitet und seufzend von ihm Abschied genommen.
    »Kleider zu entwerfen war meine kleine Geheimtür in eine andere Welt«, sagte Muskat, »in eine Welt, die nur mir gehörte. In dieser Welt war Phantasie alles. Je genauer ich mir vorstellen konnte, was ich mir vorstellen wollte, desto weiter konnte ich die Wirklichkeit hinter mir lassen. Und das Schönste daran war, daß es nichts kostete. Es war völlig umsonst. Es war herrlich! Mir schöne Kleider vorzustellen und die Vorstellungen auf Papier zu übertragen war für mich allerdings mehr als nur eine Möglichkeit, der Wirklichkeit zu entfliehen und in Träumen zu schwelgen. Ich brauchte es, um weiterleben zu können. Es war für mich so natürlich und so selbstverständlich wie das Atmen, drum nahm ich an, es erginge allen anderen ebenso. Als ich begriff, daß es allen anderen nicht so erging - ja, daß sie beim besten Willen nicht dazu imstande gewesen wären -, sagte ich mir: ›Ich bin anders als die anderen, also werde ich auch ein anderes Leben führen müssen als die anderen.‹«
    Muskat verließ die Oberschule und wechselte auf eine Fachschule für Schneiderei. Auf ihre inständigen Bitten hin verkaufte ihre Mutter eines der letzten Schmuckstücke, die ihr geblieben waren. Der Erlös ermöglichte es Muskat, zwei Jahre lang Nähen, Zuschneiden, Zeichnen und andere nützliche Fertigkeiten zu erlernen. Nach der Abschlußprüfung mietete sie sich eine kleine Wohnung und lebte von nun an allein. Sie jobbte als Kellnerin und übernahm kleine Näh- und Strickarbeiten, um sich die Ausbildung zur

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