Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
nicht ganz zweimal. Dabei zeichnete sich schon bald ein Muster ab. Erstens fuhr der Wagen jeden Tag um neun Uhr früh hinein und um halb elf wieder heraus. Der Fahrer war immer sehr pünktlich, die täglichen Schwan-kungen betrugen nie mehr als fünf Minuten. Zweitens wurde der Wagen darüber hinaus zu sehr unterschiedlichen Zeiten gesichtet. Die meisten Beob-achtungen dieser zweiten Kategorie erfolgten zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr, aber hier variierten die Ein- und Ausfahrtzeiten beträchtlich. Erhebliche Schwankungen waren auch hinsichtlich der jeweiligen Dauer dieser Besuche zu verzeichnen: von weniger als zwanzig Minuten bis hin zu einer vollen Stunde.
    Ausgehend von diesen Fakten sind wir zu den folgenden Hypothesen gelangt:
    1. Die regelmäßigen vormittäglichen Anfahrten: Sie lassen vermuten, daß jemand zum Haus »pendelt«. Um wen es sich bei dem »Pendler« handeln könnte, ist allerdings aufgrund der dunklen Verglasung des Wagens nicht zu erkennen.
    2. Die unregelmäßigen nachmittäg-lichen Anfahrten: Sie lassen vermuten, daß Gäste das Haus aufsuchen, wobei die Besuchszeiten wohl auf deren Wünsche abgestimmt werden. Ob diese »Gäste« einzeln oder zu mehreren kommen, läßt sich nicht ermitteln.
    3. Nachts scheinen im Haus keinerlei Aktivitäten stattzufinden. Es ist nicht einmal klar, ob dort überhaupt jemand wohnt. Von außerhalb der Mauer ist nicht zu erkennen, ob nach Einbruch der Dunkelheit Lichter eingeschaltet werden.
    Ein weiterer wichtiger Punkt: Während unserer ganzen zehntägigen Beobach-tungszeit hat außer dem schwarzen Mercedes nichts und niemand das Tor des Anwesens passiert: weder andere Pkws noch irgendwelche Fußgänger. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um zu erkennen, daß hier etwas sehr Seltsames im Gang ist. Der Bewohner des Hauses verläßt niemals das Grundstück, weder um einzukaufen noch um spazierenzugehen. Alle Besucher kommen und gehen ausschließlich in dem Mercedes mit den getönten Scheiben. Mit anderen Worten: Sie wollen unter allen Umständen vermeiden, gesehen zu werden. Was könnte der Grund dafür sein? Warum ist ihnen die absolute Geheimhaltung dessen, was sie da drinnen tun, solche Mühen und Kosten wert? Am Rande sei hier noch angemerkt, daß das Anwesen außer dem Tor zur Straße keine Eingänge besitzt. Hinter dem Grundstück verläuft eine enge Gasse, aber sie führt nirgendwohin. Betreten oder verlassen läßt sich diese Gasse nur durch eingezäunte Privatgrundstücke. Nach Auskunft der Nachbarn benutzt sie zur Zeit niemand, was zweifellos auch der Grund dafür ist, daß der neue Eigentümer des »Selbstmörderhauses« beim Bau der hohen, festungsartigen Umfassungs-mauer auf eine Hintertür verzichtet hat.
    Während der zehntägigen Beobach-tungszeit haben mehrere Personen, offenbar Zeitschriftenwerber oder Ver-treter, am Tor geklingelt, jedoch erfolglos. Falls jemand im Haus war, kann man annehmen, daß er sich einer am Tor installierten Überwachungs-kamera bedient, um unerwünschte Besucher von vornherein zu erkennen. Während der ganzen Zeit wurde weder Post noch irgendeine Expreß-Sendung zugestellt.
    Aus diesen Gründen bestand der einzige uns verbleibende Weg, unsere Recherchen fortzuführen, darin, den Mercedes zu verfolgen und sein Fahrtziel zu ermitteln. Den auffälligen, langsam fahrenden Wagen im Stadtverkehr im Auge zu behalten bereitete uns keine Schwierigkeiten, aber in Akasaka, an der Einfahrt in die Tiefgarage eines Luxushotels, war für uns Endstation: Ein uniformierter Wachmann hielt uns auf, und da wir die erforderliche Zugangs-berechtigung nicht vorweisen konnten, war es uns nicht möglich, dem Mercedes in die Garage zu folgen. Das fragliche Hotel ist Schauplatz mehrerer inter-nationaler Kongresse, weswegen - neben vielen ausländischen Showgrößen - auch etliche weitere prominente Persön-lichkeiten zu seinen regelmäßigen Gästen zählen. Zu deren Sicherheit und zur Wahrung ihrer Privatsphäre ist das VIP-Parkdeck von der normalen Gästegarage getrennt; darüber hinaus sind mehrere Aufzüge - ohne äußere Stockwerks-anzeige - für die ausschließliche Benutzung durch VIPs reserviert. Dadurch haben diese besonderen Gäste die Möglichkeit, völlig unbeobachtet im Hotel ein und aus zu gehen. Der Mercedes parkt offenbar auf einem der VIP-Stellplätze. Der kurzen, sorgsam abgewogenen Auskunft der Hotelleitung zufolge werden diese besonderen Stellplätze »normalerweise« nur an ausgewählte Firmen - zu besonderen

Weitere Kostenlose Bücher