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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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dahin nicht bewußt gewesen war. Vielleicht war sie in ihr aufgetaucht, sagte Muskat sich, um das Vakuum zu füllen, das die Leidenschaft für das Modedesign hinterlassen hatte. Und tatsächlich wurde diese Kraft zu ihrem neuen Beruf- zu einem Beruf, den sie sich nicht ausgesucht hatte.
     
    Die erste Nutznießerin ihrer seltsamen Kraft war die Frau eines Kaufhausbesitzers, eine gescheite, vitale Frau, die in ihrer Jugend Opernsängerin gewesen war. Sie hatte Muskats Talent schon erkannt, als diese erst eine kleine Modezeichnerin gewesen war, und hatte wohlwollend über ihren Werdegang gewacht. Ohne die Unterstützung dieser Dame wäre Muskats Firma vielleicht schon kurz nach der Gründung eingegangen. Als nun die Hochzeit der Tochter dieser Frau bevorstand, erklärte sich Muskat der besonderen Beziehung wegen bereit, bei der Auswahl und Abstimmung der Garderoben von Mutter und Tochter zu helfen - eine Aufgabe, die ihr wenig Mühe bereitete.
    Plaudernd warteten Muskat und die Dame gerade darauf, daß die Tochter wieder aus der Anprobe herauskäme, als die Dame ganz unvermittelt die Hände an den Kopf preßte und kraftlos auf die Knie sank. Erschrocken fing Muskat sie auf und begann, ihr die rechte Schläfe zu reiben. Sie tat dies ganz unwillkürlich, ohne nachzudenken, aber sie hatte noch kaum die Hand bewegt, da spürte sie darunter »ein Etwas«, als könne sie in einer Stofftasche einen Gegenstand tasten Verwirrt schloß Muskat die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. Was ihr in den Sinn kam, war der Zoo in Hsin-ching - der Zoo an einem Tag, an dem er für Besucher geschlossen war und sie ganz allein darin umherspazierte, was nur ihr als der Tochter des Chefveterinärs erlaubt war. Das war die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen: damals hatte sie sich behütet und geliebt und bestätigt gefühlt. Es war ihre früheste Erinnerung. Der leere Zoo. Sie dachte an die Gerüche, an das gleißende Licht und an die Form jeder einzelnen Wolke, die am Himmel schwebte. Allein ging sie von Käfig zu Käfig. Es war Herbst, der Himmel war hoch und klar, und Schwärme von mandschurischen Vögeln flatterten von Baum zu Baum. Dies war ihre ursprüngliche Welt gewesen, eine Welt, die in vielerlei Hinsicht für immer verloren war. Sie wußte nicht, wieviel Zeit so verstrich, schließlich aber richtete die Dame sich wieder auf und entschuldigte sich bei Muskat. Sie sei noch immer etwas durcheinander, aber ihre Kopfschmerzen, sagte sie, seien offenbar verschwunden. Ein paar Tage darauf erhielt Muskat zu ihrer Verblüffung ein weit höheres Honorar, als sie für die geleistete Arbeit erwartet hatte.
    Etwa einen Monat nach diesem Vorfall rief die Frau des Kaufhausbesitzers Muskat an und lud sie zum Lunch in ein Restaurant ein. Nach dem Essen schlug die Dame vor, noch ein wenig zu ihr zu gehen. In ihrem Haus angelangt, sagte sie zu Muskat: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir noch einmal die Hand aufzulegen, wie Sie es neulich getan haben? Ich möchte da etwas überprüfen.« Muskat sah keinen Grund, ihr diese Bitte abzuschlagen. Sie setzte sich neben die Frau und legte ihr die flache Hand auf die Schläfe. Wieder spürte sie dasselbe »Etwas«, das sie schon beim ersten Mal wahrgenommen hatte. Jetzt konzentrierte sie sich ganz darauf, um eine klarere Vorstellung von seiner Form zu gewinnen, aber die Form begann, sich zu winden und zu verändern. Es ist lebendig! Muskat erschrak. Sie schloß die Augen und richtete ihre Gedanken auf den Zoo von Hsin-ching. Das fiel ihr nicht schwer; sie brauchte sich dazu nur die Geschichte, die sie Zimt erzählt, und die Szenen, die sie ihm geschildert hatte, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Ihr Bewußtsein verließ ihren Körper, durchschweifte eine Zeitlang die Räume zwischen Erinnerung und Erzählung und kehrte schließlich zurück. Als sie wieder zu sich kam, ergriff die Dame ihre Hand und dankte ihr. Muskat stellte keine Fragen zu dem, was soeben vorgefallen war, und von sich aus sagte die Frau nichts dazu. Wie beim vorigen Mal verspürte Muskat eine leichte Müdigkeit, und ihre Stirn war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Als sie sich verabschiedete, dankte ihr die Dame dafür, daß sie sich die Zeit für den Besuch genommen habe, und versuchte, ihr ein Kuvert mit Geld in die Hand zu drücken, doch Muskat weigerte sich - höflich, aber bestimmt -, ihn anzunehmen. »Das ist nicht mein Beruf«, sagte sie, »und außerdem haben Sie mir beim letzten Mal viel zuviel gegeben.« Die

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