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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gibt es zwischen hier und Japan einen Ozean zu überqueren. Wir werden wahrscheinlich alle hier sterben.« Während er sprach, hielt er den Blick auf den Boden gerichtet. »Sagen Sie mir eins, Herr Doktor, haben Sie Angst vor dem Tod?«
    »Ich schätze, das hängt davon ab, wie man stirbt«, sagte der Tierarzt nach kurzem Nachdenken.
    Der Leutnant hob den Blick und sah den Tierarzt an, als sei plötzlich seine Neugier erwacht. Er hatte offenbar eine andere Antwort erwartet. »Sie haben recht«, sagte er. »Das hängt tatsächlich davon ab, wie man stirbt.« Eine Zeitlang sprachen beide kein Wort. Der Leutnant sah so aus, als könnte er auf der Stelle im Stehen einschlafen. Offensichtlich war er völlig erschöpft. Eine besonders große Heuschrecke flog wie ein Vogel über sie hinweg und verschwand mit lautem Flügelgesurr in einem fernen Grasdickicht. Der Leutnant warf einen Blick auf seine Uhr.
    »Zeit anzufangen«, sagte er zu niemand Bestimmtem. Und dann zum Tierarzt: »Ich möchte Sie bitten, noch eine Weile hierzubleiben. Es kann sein, daß ich Sie um einen Gefallen bitten muß.« Der Tierarzt nickte.
     
    Die Soldaten führten die chinesischen Gefangenen zur Lichtung und banden ihnen die Hände los. Der Korporal zeichnete mit einem Baseballschläger - wozu ein Soldat so einen Schläger bei sich hatte, war dem Tierarzt ein weiteres Rätsel - einen großen Kreis auf dem Boden und befahl den Gefangenen auf japanisch, ein tiefes Loch in der Größe des Kreises zu graben. Schweigend fingen die Männer in Baseballtrikot an, mit Spitzhacke und Schaufel zu graben. Die Hälfte der Soldaten hielt bei ihnen Wache, während die übrigen sich unter die Bäume legten. Sie schienen ein verzweifeltes Schlafbedürfnis zu haben; kaum hatten sie sich, in voller Montur, auf dem Boden ausgestreckt, fingen sie auch schon zu schnarchen an. Die vier Soldaten, die wach blieben, behielten die Grabenden im Auge, das Gewehr auf die Hüfte gestützt, das Bajonett aufgepflanzt und einsatzbereit. Der Leutnant und der Korporal beaufsichtigten abwechselnd die Arbeit, während der jeweils andere ein Schläfchen unter den Bäumen machte.
    In weniger als einer Stunde hatten die vier chinesischen Gefangenen ein Loch von knapp vier Metern Durchmesser und vielleicht anderthalb Metern Tiefe ausgehoben. Einer der Männer bat auf japanisch um Wasser. Der Leutnant nickte, und ein Soldat brachte einen vollen Eimer. Reihum schöpften die vier Chinesen mit einer Kelle Wasser und tranken gierig. Sie tranken fast den ganzen Eimer leer. Ihre Trikots waren schwarz von Blut, Schlamm und Schweiß.
    Der Leutnant befahl zwei Soldaten, den Karren zum Rand der Grube zu ziehen. Der Korporal riß die Plane mit einem Ruck herunter, und auf der Ladefläche wurden vier aufeinandergestapelte Tote sichtbar. Sie trugen die gleichen Baseballtrikots wie die Gefangenen und waren dem Anschein nach gleichfalls Chinesen. Sie waren offenbar erschossen worden, und ihre Kleidung war mit schwarzen Blutflecken übersät. Über den Leichen zog sich bereits ein Schwarm großer Aasfliegen zusammen. Der Arzt schätzte nach dem Trockenheitsgrad des Blutes, daß sie seit etwa vierundzwanzig Stunden tot sein mußten.
    Der Leutnant befahl den vier Chinesen, die Leichen in das frisch ausgehobene Loch zu werfen. Ohne ein Wort, mit ausdruckslosen Gesichtern, zogen die Männer die Leichen vom Karren und warfen sie eine nach der anderen in die Grube. Jede Leiche landete mit einem dumpfen Aufprall. Die Zahlen auf den Trikots der Toten lauteten 2,5,6 und 8. Der Tierarzt prägte sie sich ein. Als die vier Chinesen alle Leichen in die Grube geworfen hatten, fesselten die Soldaten sie je an einen Baum. Der Leutnant hielt das Handgelenk in die Höhe und fixierte mit grimmiger Miene seine Uhr. Dann hob er den Blick und starrte eine Zeitlang einen Punkt am Himmel an, als suche er dort irgend etwas. Er sah wie ein Bahnhofsvorsteher aus, der auf dem Perron steht und auf einen hoffnungslos verspäteten Zug wartet. In Wirklichkeit hielt er aber nach überhaupt nichts Ausschau. Er ließ einfach nur ein bestimmtes Quantum Zeit verstreichen. Als das erledigt war, wandte er sich zum Korporal und befahl ihm mit knappen Worten, drei der vier Gefangenen (Nummer 1,7 und 9) mit dem Bajonett zu töten. Drei Soldaten wurden für die Aufgabe ausgewählt und vor den drei Chinesen postiert. Die Soldaten sahen bleicher aus als die Männer, die sie gleich töten würden. Die Chinesen sahen zu erschöpft aus, um noch auf

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