Mister Aufziehvogel
ein anderes Dokument.
Ich wählte Nummer 10, aber mit dem gleichen Ergebnis.
Zugriff verweigert. »Die Aufziehvogel-Chronik Nr. 10« unterliegt Kode R24.
Wählen Sie ein anderes Dokument.
Das gleiche passierte mit Nr. 11 - und mit allen übrigen Dokumenten, einschließlich Nr. 8. Ich hatte keine Ahnung, was dieser »Kode R24« war, aber offensichtlich blockierte er jetzt den Zugriff auf alles. In dem Augenblick, als ich »Die Aufziehvogel-Chronik Nr. 8« geöffnet hatte, hätte ich wahrscheinlich genausogut jedes andere Dokument aufrufen können, aber sobald Nr. 8 geöffnet und wieder geschlossen worden war, waren sämtliche Türen versperrt. Vielleicht gestattete dieses Programm nicht, auf mehr als ein Dokument pro Sitzung zuzugreifen. Ich saß vor dem Computer und fragte mich, was ich als nächstes tun sollte. Aber es gab nichts, was ich als nächstes hätte tun können. Dies war eine exakt geordnete Welt, die in Zimts Kopf entworfen worden war und nach den von ihm aufgestellten Gesetzen funktionierte. Ich kannte die Spielregeln nicht. Also gab ich jeden weiteren Versuch auf und schaltete den Computer aus.
Zweifellos war »Die Aufziehvogel-Chronik Nr. 8« eine Geschichte, die Zimt geschrieben hatte. Unter dem Titel »Die Aufziehvogel-Chronik« hatte er sechzehn Geschichten in den Computer eingegeben, und zufällig hatte ich Nr. 8 ausgewählt und gelesen. Nach der Länge dieser einen zu urteilen hätten sechzehn solche Geschichten im Druck ein ziemlich dickes Buch ergeben. Was konnte die Bezeichnung »Nr. 8« bedeuten? Das Wort »Chronik« im Titel besagte wahrscheinlich, daß die Geschichten chronologisch zusammenhingen, so daß Nr. 8 auf Nr. 7 folgte, Nr. 9 auf Nr. 8, und so weiter. Das war eine plausible Annahme, aber sie mußte nicht zutreffen. Die Geschichten konnten ebensogut in einer anderen Reihenfolge angeordnet sein; sie konnten sogar rückwärts verlaufen, von der Gegenwart in die Vergangenheit. Nach einer noch kühneren Hypothese konnte es sich auch um sechzehn verschiedene, parallel erzählte Versionen ein und derselben Geschichte handeln. Auf alle Fälle war diejenige, die ich ausgewählt hatte, die Fortsetzung der Geschichte, die ich von Zimts Mutter, Muskat, her kannte: die Geschichte von den Soldaten, die im August 1945 Tiere des Zoos von Hsin-ching getötet hatten. Sie spielte im selben Zoo, am darauffolgenden Tag, und wieder war die Hauptperson Muskats Vater, Zimts Großvater, der namenlose Tierarzt.
Ich hatte keine Möglichkeit festzustellen, wieviel von der Geschichte der Wahrheit entsprach. War sie ganz Zimts Erfindung, oder beruhten einzelne Passagen auf tatsächlichen Ereignissen? Muskat hatte mir gesagt, »kein Mensch« wisse, was mit ihrem Vater geschehen sei, nachdem sie ihn zuletzt gesehen habe. Das hieß, daß die Geschichte nicht vollständig wahr sein konnte. Gleichwohl war denkbar, daß gewisse Einzelheiten auf historischen Tatsachen beruhten. Es war möglich, daß in den Wirren der allerletzten Kriegstage eine Reihe von Kadetten der Offiziersanwärterschule der Armee von Mandschukuo auf dem Gelände des Zoos von Hsin-ching exekutiert und begraben worden waren und daß die Sowjets den für die Operation verantwortlichen japanischen Offizier nach dem Krieg hingerichtet hatten. Fälle von Fahnenflucht und Rebellion waren in der Armee von Mandschukuo zu jener Zeit durchaus keine Seltenheit gewesen; und auch wenn die Vorstellung, die ermordeten chinesischen Kadetten hätten Baseballkleidung getragen, recht merkwürdig war, konnte auch das der Fall gewesen sein. Wenn Zimt diese Fakten kannte, konnte er sie mit dem Bild, das er von seinem Großvater hatte, verknüpft und seine eigene Geschichte erfunden haben. Aber warum hatte Zimt diese Geschichten geschrieben? Und warum Geschichten? Warum hatte er nicht eine andere Darstellungsform gewählt? Und warum hatte er es für nötig befunden, im Titel das Wort »Chronik« zu verwenden? Ich saß im Anproberaum auf dem Sofa und dachte über diese Dinge nach, während ich einen Buntstift zwischen den Fingern zwirbelte.
Um Antworten auf meine Fragen zu finden, hätte ich wahrscheinlich alle sechzehn Geschichten lesen müssen, aber bereits nach dem ersten Lesen von Nr. 8 hatte ich eine - wenn auch vage - Ahnung, worum es Zimt bei seinem Schreiben ging. Er befand sich auf der Suche nach dem Sinn seines Daseins. Und er hoffte, ihn zu finden, indem er die Ereignisse erkundete, die seiner Geburt vorausgegangen waren.
Hierzu mußte er die
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