Mister Aufziehvogel
weißen Flecken in der Vergangenheit, an die er mit eigenen Händen nicht herankam, irgendwie auffüllen. Indem er mit Hilfe ebendieser Hände eine Geschichte erzählte, versuchte er, die fehlenden Bindeglieder zu schaffen. Aus den Geschichten, die er von seiner Mutter unzählige Male gehört hatte, leitete er weitere Geschichten ab, mit denen er versuchte, die rätselhafte Gestalt seines Großvaters vor einem neuen Hintergrund wiederaufleben zu lassen. Aus den Erzählungen seiner Mutter hatte er den Leitgedanken übernommen, dem er in seinen eigenen Geschichten unverändert folgte: die Annahme nämlich, daß das Reale nicht unbedingt wahr und die Wahrheit nicht unbedingt real sein muß.
Die Frage, welche Elemente einer Geschichte auf Tatsachen beruhten und welche nicht, war für Zimt wahrscheinlich nicht wesentlich. Wichtig war für Zimt nicht die Frage, was sein Großvater getan hatte, sondern was er hätte getan haben können. Die Antwort auf diese Frage erfuhr Zimt, sobald es ihm gelang, die jeweilige Geschichte zu erzählen.
Seine Geschichten verwendeten »Aufziehvogel« als Leitmotiv, und sehr wahrscheinlich führten sie die Erzählung in Form einer Chronik (oder vielleicht auch nicht in Form einer Chronik) bis in die Gegenwart weiter. Aber der Begriff »Aufziehvogel« war nicht Zimts Schöpfung. Er war ein Ausdruck, den seine Mutter, Muskat, unbewußt gebraucht hatte, als sie mir in dem Restaurant in Aoyama, in dem wir uns immer zum Essen trafen, eine Geschichte erzählt hatte. Damals hatte Muskat mit einiger Sicherheit nicht gewußt, daß man mir den Spitznamen »Mister Aufziehvogel« gegeben hatte. Was bedeutete, daß ich durch irgendeine zufällige Verknüpfung von Umständen mit Muskats und Zimts Geschichte zusammenhing.
Freilich konnte ich mir da nicht sicher sein. Muskat könnte doch gewußt haben, daß ich »Aufziehvogel« genannt wurde. Das Wort könnte ihre Geschichte (oder vielmehr ihrer beider Geschichte) beeinflußt haben, könnte sich bei ihr eingeschlichen haben, ohne daß ihr dies bewußt wurde. Möglicherweise existierte diese Mutter und Sohn gemeinsam gehörende Geschichte nicht nur in einer einzigen fixierten Fassung, sondern verwandelte und entwickelte sich immer weiter, wie jede mündlich tradierte Geschichte.
Ob nun zufällig hineingeraten oder nicht, der »Aufziehvogel« spielte in Zimts Geschichte eine wichtige Rolle. Der Ruf dieses Vogels war nur für bestimmte, besondere Menschen vernehmbar, und sie wurden durch ihn unvermeidlich ins Verderben geführt. Dann aber bedeutete der menschliche Wille nichts, gerade so, wie es der Tierarzt offenbar stets empfunden hatte. Die Menschen waren nichts als mechanische Puppen mit einem Uhrwerk im Rücken, die auf einen Tisch gestellt wurden und sich auf vorgeschriebene Weise in vorgeschriebenen Bahnen bewegten, ohne daran etwas ändern zu können. Fast alle, die sich in Hörweite des Aufziehvogelrufs befanden, waren zum Scheitern verurteilt, verloren. Die meisten von ihnen stürzten über die Tischkante und starben.
Sehr wahrscheinlich hatte Zimt mein Gespräch mit Kumiko »abgehört«. Vermutlich entging ihm nichts von dem, was sich in seinem Computer tat. Er hatte wahrscheinlich abgewartet, bis ich fertig war, und mir dann die Geschichte aus der »Aufziehvogel-Chronik« vorgesetzt. Das war weder zufällig noch aus einer Laune heraus geschehen. Zimt hatte den Rechner mit einer ganz bestimmten Absicht gesteuert und hatte mir eine Geschichte gezeigt. Er hatte mir außerdem die Information zugespielt, daß es möglicherweise ein ganzes Netz von Geschichten gab. Ich streckte mich auf dem Sofa aus und starrte im Halbdunkel zur Decke des Anproberaums. Die Nacht war tief und drückend, die Umgebung quälend still. Die weiße Decke sah wie eine dicke Eiskappe aus, die man dem Zimmer aufgesetzt hatte.
Zimts Großvater, der namenlose Tierarzt, und ich hatten eine Reihe ungewöhnlicher Dinge gemeinsam - ein Mal im Gesicht, einen Baseballschläger, den Schrei des Aufziehvogels. Und dann war da noch der Leutnant, der in Zimts Geschichte vorkam: Er erinnerte mich an Leutnant Mamiya. Leutnant Mamiya war zu jener Zeit ebenfalls im Hauptquartier der Kwantung-Armee in Hsin-ching stationiert gewesen. Der wirkliche Leutnant Mamiya hatte allerdings nicht in der Zahlmeisterei gearbeitet, sondern im Vermessungskorps gedient, und nach dem Krieg war er auch nicht gehängt worden (das Schicksal hatte ihm den Tod versagt), sondern war nach Japan zurückgekehrt, nachdem
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