Mister Aufziehvogel
wohin auch immer - mitzunehmen. Der Leutnant sicherte die Pistole wieder und steckte sie sorgfältig in das Halfter zurück. Das war das erste Mal überhaupt gewesen, daß er auf einen Menschen geschossen hatte. Aber er versuchte, nicht daran zu denken. Der Krieg würde wenigstens noch ein Weilchen dauern, und es würden weiter Menschen sterben. Grübeleien konnte er sich für später aufsparen. Er wischte sich die verschwitzte rechte Handfläche an der Hose ab und befahl dann den Soldaten, die nicht an der Exekution beteiligt gewesen waren, die Grube zuzuschaufeln. Ein riesiger Schwarm Fliegen hatte den Leichenhaufen bereits in Besitz genommen. Den Schläger fest umklammert, stand der junge Soldat noch immer wie vom Donner gerührt da. Er schaffte es einfach nicht, die Hände zu öffnen. Der Leutnant und der Korporal ließen ihn in Ruhe. Er hatte den Eindruck erweckt, als habe er das ganze bizarre Schauspiel mit angesehen - den »toten« Chinesen, der plötzlich den Tierarzt beim Handgelenk gepackt hatte, die beiden, die ins Grab gefallen waren, den Leutnant, der hineingesprungen und dem Chinesen den Fangschuß gegeben hatte, und jetzt die anderen Soldaten, die die Grube zuschütteten. Aber tatsächlich hatte er nichts davon mitbekommen. Er hatte dem Aufziehvogel gelauscht. Wie am vorigen Nachmittag saß der Vogel irgendwo in der Krone eines Baumes und machte dieses scbnaarrr, schnaarrr, als ziehe er eine Feder auf. Der Soldat sah nach oben und versuchte zu lokalisieren, woher die Schreie kamen, aber von dem Vogel war nichts zu sehen. Er verspürte eine gewisse Übelkeit in der Kehle, aber längst nicht so schlimm wie gestern. Während er dem Aufziehen der Feder lauschte, sah der junge Soldat vor sich Fragmente eines Bildes nach dem anderen aufleuchten und wieder verblassen. Nach der Entwaffnung durch die Sowjets würde der junge Zahlmeister-Leutnant den Chinesen übergeben und für seine Verantwortung an diesen Hinrichtungen aufgehängt werden. Der Korporal würde in einem sibirischen Konzentrationslager an der Pest sterben: Man würde ihn in eine Quarantänebaracke werfen und da einfach sterben lassen, obwohl er in Wirklichkeit lediglich aus Unterernährung zusammengebrochen war und sich keineswegs die Pest zugezogen hatte - jedenfalls nicht, bevor er in diese Baracke kam. Der Tierarzt mit dem Mal im Gesicht würde binnen Jahresfrist bei einem Unfall ums Leben kommen. Obwohl Zivilist, würde er von den Sowjets wegen Kollaboration mit dem Militär zur Zwangsarbeit in ein anderes sibirisches Lager geschickt werden. Er würde in einem sibirischen Kohlenbergwerk in einem tiefen Schacht arbeiten und dort, von einem plötzlichen Wassereinbruch überrascht, zusammen mit vielen Soldaten ertrinken. Und ich …, dachte der junge Soldat, den Schläger in den Händen, aber seine eigene Zukunft konnte er nicht sehen. Er konnte nicht einmal sehen, was sich vor seinen eigenen Augen ereignete. Jetzt schloß er die Augen und lauschte dem Ruf des Aufziehvogels.
Ganz unvermittelt dachte er dann an den Ozean - den Ozean, den er vom Deck des Schiffes aus gesehen hatte, auf welchem er von Japan in die Mandschurei gekommen war. Bis dahin hatte er den Ozean noch nie gesehen, und auch danach nie wieder. Das war vor acht Jahren gewesen. Er konnte sich noch immer an den salzigen Geruch der Luft erinnern. Der Ozean war eines der grandiosesten Dinge, die er in seinem Leben gesehen hatte - größer und tiefer, als er es sich je vorgestellt hatte. Je nach Zeit und Ort und Witterung wechselte der Ozean seine Farbe, Gestalt und Stimmung. Er erweckte eine tiefe Traurigkeit im Herzen des Jungen, und zugleich schenkte er seinem Herzen Trost und Frieden. Würde er ihn je wiedersehen? Er lockerte seinen Griff und ließ den Schläger fallen. Der Schläger prallte mit einem trockenen Geräusch auf dem Boden auf. Nachdem der Schläger seinen Händen entglitten war, nahm seine Übelkeit ein wenig zu. Der Aufziehvogel schrie immer weiter, aber niemand außer ihm konnte den Ruf hören.
Hier endete die »Die Aufziehvogel-Chronik Nr. 8«.
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Hier endete die »Die Aufziehvogel-Chronik Nr. 8«.
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