Mister Aufziehvogel
er im Gefecht die linke Hand verloren hatte. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, daß der Offizier, der die Hinrichtung der chinesischen Kadetten geleitet hatte, Leutnant Mamiya gewesen war. Zumindest hätte es mich nicht im geringsten gewundert, wenn er es gewesen wäre.
Dann war da noch das Problem mit den Baseballschlägern. Zimt wußte, daß ich auf dem Grund des Brunnens einen Schläger hatte. Daraus folgte, daß sich das Bild des Schlägers auf dieselbe Weise in seine Geschichte eingeschlichen haben konnte wie der Begriff »Aufziehvogel«. Doch selbst wenn es so war, blieb da noch ein Aspekt des Schlägermotivs, der sich nicht so einfach erklären ließ: der Mann mit dem Gitarrenkasten, der mich im Flur des verlassenen Mietshauses mit dem Schläger angegriffen hatte. Jener Mann, der in einer Bar in Sapporo vorgeführt hatte, wie er sich über einer Kerzenflamme die Handfläche verbrannte, und der mich später mit dem Schläger geschlagen hatte, nur damit ich anschließend ihn damit schlüge. Er hatte mir den Schläger ausgeliefert.
Und schließlich, warum war mir ein Mal von derselben Farbe und Form ins Gesicht gebrannt worden, wie Zimts Großvater eines gehabt hatte? Kam auch das nur darum in ihrer Geschichte vor, weil sich meine Anwesenheit in sie »eingeschlichen« hatte? Hatte der wirkliche Tierarzt denn überhaupt ein Mal im Gesicht getragen? Aber Muskat hatte es doch gewiß nicht nötig, ein solches Detail zu erfinden, als sie mir ihren Vater beschrieb. Was es ihr ermöglicht hatte, mich auf den Straßen von Shinjuku zu »finden«, war ja gerade dieses Mal gewesen, das ihr Vater und ich gemeinsam hatten. Alles hing miteinander zusammen, jedoch auf so komplizierte Weise wie ein dreidimensionales Puzzle - ein Puzzle, in dem die Wahrheit nicht unbedingt real sein mußte und das Reale nicht unbedingt wahr.
Ich stand vom Sofa auf und ging wieder in Zimts kleines Arbeitszimmer. Dort setzte ich mich an den Computer, stützte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und starrte auf den Bildschirm. Zimt war wahrscheinlich da drinnen. Da drinnen lebten und atmeten seine lautlosen Worte in Form von Geschichten. Sie konnten denken und suchen, wachsen und Wärme abgeben. Aber der Bildschirm vor mir blieb so tief tot wie der Mond und verbarg Zimts Worte in einem Dschungellabyrinth. Weder der Bildschirm des Monitors noch, hinter diesem, Zimt selbst versuchten, mir mehr zu sagen, als mir bereits gesagt worden war.
28
A UF HÄUSER IST EINFACH KEIN VERLASS
(MAY KASAHARAS STANDPUNKT: 5)
Wie geht’s, Mister Aufziehvogel?
In meinem letzten Brief hab ich am Schluß geschrieben, ich hätte Ihnen so ziemlich alles gesagt, was ich Ihnen sagen wollte - ganz so, als wär’s das nun gewesen. Wissen Sie noch?
Anschließend hab ich allerdings noch ein bißchen nachgedacht und ich fand allmählich, ich sollte doch noch ein bißchen mehr schreiben. Und so krabble ich hier mitten in der Nacht rum wie eine Kakerlake, setz mich an meinen Schreibtisch und schreib Ihnen wieder.
Ich weiß nicht warum, aber neuerdings denke ich ziemlich viel über die Miyawakis nach - die armen Miyawakis, die früher in diesem verlassenen Haus wohnten, bis ihnen dann die Schuldeneintreiber auf die Pelle rückten und sie alle auf und davon sind und sich umgebracht haben. Ich bin ziemlich sicher, ich hab irgendwo was davon gelesen, daß nur die älteste Tochter überlebt hat und jetzt keiner weiß, wo sie ist … Ob ich am Arbeiten bin oder in der Kantine oder in meinem Zimmer und hör mir Musik an und lese ein Buch, schwupp, kommt mir das Bild dieser Familie in den Kopf. Nicht, daß es mich verfolgen würde oder sonstwas, aber sobald sich eine Öffnung auftut (und mein Kopf hat jede Menge Öffnungen!), schleicht es sich rein und bleibt da ein Weilchen, so wie Rauch von einem Lagerfeuer durchs Fenster reinwehen kann. Seit einer Woche oder so passiert mir das andauernd.
Ich hab seit meiner Geburt in unserem Haus an der Gasse gewohnt und bin mit dem Haus der Miyawakis vor der Nase aufgewachsen. Mein Fenster sieht genau darauf. Als ich in die Schule kam, hab ich ein eigenes Zimmer bekommen. Da hatten die Miyawakis schon ihr neues Haus gebaut und wohnten darin. Ich konnte immer den einen oder anderen von ihnen im Haus oder im Garten sehen -, an schönen Tagen tonnenweise Wäsche am Trocknen, die zwei Mädchen, die lauthals nach ihrem großen schwarzen deutschen Schäferhund riefen (wie hieß der noch mal?). Und wenn die Sonne unterging,
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