Mister Aufziehvogel
Sie sich bitte keine Sorgen um mich. Ich krieg immer noch alles mögliche gut hin, selbst wenn ich gerade mitten in einer Wahnvorstellung stecke. Und auf meine Weise sage ich kleine Gebete für Sie und hoffe, daß für Sie alles gut ausgeht, daß Kumiko zurückkommt und Sie wieder Ihr ruhiges, glückliches Leben führen können. Ade.
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D IE GEBURT EINES LEERSTEHENDEN HAUSES
Am nächsten Morgen wurde es neun, dann zehn, ohne daß Zimt aufgetaucht wäre. Noch nie war etwas Derartiges passiert. Seitdem ich hier zu »arbeiten« begonnen hatte, war er noch nie nur einen Tag ausgeblieben. Jeden Morgen Punkt neun schwang das Tor auf, und der funkelnde Mercedes-Stern erschien. Dieser gleichzeitig nüchterne und theatralische Auftritt von Zimt markierte für mich stets eindeutig den Beginn eines neuen Tages. Ich hatte mich an diese feste tägliche Routine gewöhnt, so wie die Menschen sich an die Schwerkraft oder den atmosphärischen Druck gewöhnen. Zimts pedantische Pünktlichkeit war von einer gewissen Wärme, etwas daran ging über das mechanisch Voraussagbare hinaus und wirkte tröstlich und ermutigend auf mich. Und darum glich ein Morgen ohne Zimts Erscheinen einem gut ausgeführten Landschaftsbild, dem jede Perspektive fehlte.
Ich gab es auf, auf ihn zu warten, verließ das Fenster und schälte mir als Ersatz für ein Frühstück einen Apfel. Dann sah ich in Zimts Arbeitszimmer nach, ob es vielleicht eine Computer-Nachricht gab, aber der Bildschirm war so tot wie immer. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als Zimts Beispiel zu folgen und bei Barockmusik Wäsche zu waschen, Staub zu saugen und Fenster zu putzen. Um die Zeit totzuschlagen, tat ich jeden einzelnen Handgriff bewußt langsam und bedächtig und ging sogar so weit, in der Küche die Blätter des Abzugsventilators sauber zu wischen, aber die Zeit wollte und wollte dennoch nicht vergehen. Um elf hatte ich nichts mehr zu tun, also legte ich mich im Anproberaum aufs Sofa und gab mich dem trägen Fluß der Zeit hin. Ich versuchte, mir einzureden, Zimt sei durch irgendeinen kleinen Zwischenfall aufgehalten worden. Vielleicht hatte er eine Autopanne oder war in einen besonders zähen Stau geraten. Aber ich wußte, daß das nicht stimmen konnte. Ich hätte mein letztes Hemd darauf verwettet. Zimts Auto würde niemals eine Panne haben, und er kalkulierte mögliche Staus immer ein. Außerdem hatte er ein Autotelefon, mit dem er mich in einem unvorhergesehenen Notfall hätte anrufen können. Nein, Zimt war nicht hier, weil er beschlossen hatte, nicht zu kommen.
Kurz vor eins versuchte ich, in Muskats Atelier in Akasaka anzurufen, aber niemand nahm ab. Ich versuchte es noch einmal und noch einmal, aber immer mit demselben Ergebnis. Dann probierte ich es in Ushikawas Büro, aber da hörte ich lediglich die automatische Ansage: »Dieser Anschluß ist zur Zeit nicht erreichbar.« Das war merkwürdig. Ich hatte ihn erst vor zwei Tagen unter dieser Nummer angerufen. Ich gab es auf, ging in den Anproberaum zurück und legte mich wieder aufs Sofa. Auf einmal sah es so aus, als habe alles sich in den letzten zwei Tagen verschworen, den Kontakt zu mir zu kappen.
Ich stellte mich wieder ans Fenster und spähte durch die Gardinen. Zwei unternehmungslustig dreinschauende kleine Wintervögel waren in den Garten gekommen und guckten jetzt von einem Zweig aus großäugig in die Gegend. Dann schien sie plötzlich alles da zu langweilen, und sie flogen davon. Sonst rührte sich weit und breit nichts. Die Zentrale fühlte sich an wie ein seit neustem leerstehendes Haus.
Fünf Tage lang ging ich nicht wieder hin. Aus irgendeinem Grund hatte ich offenbar jeden Antrieb verloren, in den Brunnen zu steigen. Bald würde ich den Brunnen auch noch verlieren. Ohne Klientinnen konnte ich die Zentrale noch höchstens zwei Monate halten, da hätte ich den Brunnen also eigentlich nach Kräften ausnutzen sollen, solange er noch mir gehörte. Aber ich fühlte mich wie gelähmt. Der ganze Ort kam mir mit einemmal falsch und unnatürlich vor. Ziellos streifte ich umher, ohne zur Zentrale zu gehen. Nachmittags fuhr ich nach Shinjuku, setzte mich auf meine gewohnte Bank auf dem Platz westlich des Bahnhofs und schlug irgendwie die Zeit tot, aber Muskat ließ sich nicht blicken. Einmal fuhr ich zu ihrem Atelier in Akasaka, klingelte am Aufzug und starrte in die Überwachungskamera, aber nichts rührte sich. Ich war bereit aufzugeben. Muskat und Zimt hatten offensichtlich beschlossen, jede
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