Mister Aufziehvogel
nicht so nett gewesen wäre, es zu bauen. Finden Sie nicht auch? Auf Häuser ist einfach kein Verlaß.
Wie das Haus später aussah, wissen Sie so gut wie ich, Mister Aufziehvogel. Verlassen, mit niemand, der drin wohnte, und von oben bis unten voller Vogelkacke und alles. Jahrelang war das das einzige, was ich durch mein Fenster zu sehen bekam, wenn ich an meinem Schreibtisch saß und lernte - oder so tat, als würd ich lernen. Ob die Sonne schien, ob es regnete oder schneite oder ein Taifun durchfegte: jeden Tag war’s da, direkt vor meinem Fenster, und so konnte ich’s gar nicht vermeiden, es jedesmal zu sehen, wenn ich rausschaute. Und so komisch das auch klingt: wie die Jahre vergingen, versuchte ich immer weniger, es zu übersehen. Ich konnte (und tat’s auch!) ganze Stunden am Stück mit dem Ellbogen auf meinem Schreibtisch dasitzen und nichts anderes tun, als dieses leerstehende Haus anschauen. Ich weiß nicht - vor gar nicht so langer Zeit war da immer ein Lachen gewesen, und blütenweiße Wäschestücke hatten im Wind geflattert wie in einem Werbespot für Waschpulver (ich würde nicht grad sagen, daß Frau Miyawaki » abnorm « war oder so, aber sie hat gern Wäsche gewaschen - weit lieber als die meisten normalen Leute). Das alles war mit einem Schlag verschwunden, der Garten war voller Unkraut, und es war niemand mehr da, der sich an die glücklichen Tage der Familie Miyawaki erinnert hätte. Ich fand das sooo merkwürdig!
Damit Sie mich richtig verstehen: nicht, daß ich mit den Miyawakis besonders dick befreundet gewesen wäre. Genaugenommen habe ich kaum je ein Wort mit einem von ihnen gewechselt, außer » Tag « auf der Straße. Aber weil ich jeden Tag so viel Zeit damit verbracht und so viel Energie darin investiert hatte, sie von meinem Fenster aus zu beobachten, hatte ich das Gefühl, als wäre die ganze Fröhlichkeit und das Glück der Familie zu einem Teil von mir geworden. Sie kennen das doch, wenn in der Ecke eines Familienfotos jemand zu sehen ist - gerade eben -, der da überhaupt nichts zu suchen hat. Und so hab ich manchmal so das Gefühl, als ob ein Teil von mir zusammen mit den Miyawakis » flüchtig « wäre und einfach verschwunden. Ist wohl ganz schön verrückt, was, das Gefühl zu haben, ein Teil von einem wär weg, weil er zusammen mit Leuten » geflohen « ist, die man kaum kennt?
Da ich schon mal angefangen habe, Ihnen eine verrückte Sache zu erzählen, kann ich Ihnen genausogut eine andere sagen. Also, die ist jetzt aber wirklich verrückt! Neuerdings habe ich manchmal das Gefühl, daß ich mich in Kumiko verwandelt habe. Ich bin in Wirklichkeit Missis Aufziehvogel, und ich bin Ihnen aus irgendeinem Grund weggelaufen, halte mich hier in den Bergen versteckt und arbeite in einer Perückenfabrik. Aus allen möglichen komplizierten Gründen bin ich gezwungen, zur Tarnung den Namen » May Kasahara « zu benutzen und diese Maske zu tragen und so zu tun, als wäre ich nicht Kumiko. Und Sie sitzen einfach so da auf dieser traurigen kleinen Veranda, die Sie haben, und warten darauf, daß ich zurückkomme. Ich weiß auch nicht - ich hab wirklich dieses Gefühl.
Sagen Sie mal, Mister Aufziehvogel, werden Sie je von solchen Wahnvorstellungen verfolgt? Nicht, um mich interessant zu machen oder so, aber ich schon. Andauernd. Manchmal, wenn sie richtig schlimm sind, verbringe ich den ganzen Arbeitstag eingehüllt in eine Wolke des Wahns. Natürlich brauche ich nur diese einfachen Handbewegungen zu tun, deswegen behindert es mich nicht bei der Arbeit, aber die anderen Mädchen gucken mich manchmal ganz komisch an. Oder vielleicht rede ich laut mit mir selbst und sag irgendwelche verrückten Sachen. Das ist mir furchtbar unangenehm, aber es nützt nichts, wenn ich versuche, dagegen anzukämpfen. Wenn eine Wahnvorstellung kommen will, dann kommt sie, wie die Periode. Und man kann sie nicht einfach an der Haustür abfangen und sagen: » Tut mir leid, ich hab heut zu tun, versuch ’s später noch mal. « Wie auch immer, ich hoffe, es stört Sie nicht, Mister Aufziehvogel, daß ich manchmal so tue, als wär ich Kumiko. Ich tu ’s nicht mit Absicht.
So langsam werd ich richtig, richtig, richtig müde. Ich werd jetzt drei, vier Stunden schlafen - ich meine, wie ein Stein -, dann aufstehen und von Morgen bis Abend hart arbeiten. Ich werde zusammen mit den anderen Mädchen ein ordentliches Tagespensum schaffen und mich dabei mit irgendeiner harmlosen Musik berieseln lassen. Machen
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