Mister Aufziehvogel
Verbindung zu mir abzubrechen. Dieses seltsame Mutter-Sohn-Gespann hatte das sinkende Schiff verlassen und sicherere Gefilde aufgesucht. Der heftige Kummer, den mir diese Einsicht bereitete, überraschte mich. Ich fühlte mich wie von meiner eigene Familie im Stich gelassen.
30
M ALTA KANOS SCHWANZ
BORIS DER MENSCHENSCHINDER
In meinem Traum (aber ich wußte nicht, daß es ein Traum war) saß ich Malta Kano an einem Tisch gegenüber und trank Tee. Der rechteckige Raum war so lang und so breit, daß man nicht von einem Ende zum anderen sehen konnte, und in ihm standen, in vollkommen geraden Reihen angeordnet, fünfhundert oder mehr quadratische Tische. Wir saßen als einzige an einem der Tische in der Mitte. Unter der Decke (sie war so hoch wie die eines buddhistischen Tempels) verliefen unzählige schwere Querbalken, und von diesen hingen, wie Blumenampeln, dicht an dicht, Gegenstände herab, die wie Toupets aussahen. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, daß es echte menschliche Kopfhäute waren; ich konnte es an dem schwarzen Blut an ihren Unterseiten erkennen. Es waren frisch abgenommene Skalps, die man zum Trocknen an den Deckenbalken aufgehängt hatte. Ich befürchtete, das noch frische Blut könnte in unseren Tee tropfen. Überall um uns herum tröpfelte es wie blutige Regentropfen herab, und das Geräusch hallte in dem höhlenartigen Saal. Nur die Skalps direkt über unserem Tisch schienen schon so weit getrocknet zu sein, daß von ihnen kein Blut mehr tropfte. Der Tee war siedend heiß. Auf unseren Untertassen lagen neben den Teelöffeln je drei grellgrüne Zuckerwürfel. Malta Kano ließ zwei davon in ihren Tee fallen und rührte um, aber die Würfel wollten sich nicht auflösen. Ein Hund tauchte aus dem Nichts auf und setzte sich neben unseren Tisch. Er hatte das Gesicht von Ushikawa. Es war ein großer Hund, mit einem gedrungenen, schwarzen Körper, aber vom Hals aufwärts war er Ushikawa, nur daß das zottige schwarze Fell auch auf Gesicht und Kopf wuchs. »Na, wenn das nicht Herr Okada ist«, sagte der hundegestaltige Ushikawa. »Und sehen Sie sich das nur an: Haare wie ein junger Gott. Sie sind in dem Augenblick gesprossen, wo ich mich in einen Hund verwandelt habe. Unglaublich. Ich hab jetzt viel größere Eier als vorher, und meine ständigen Magenschmerzen sind weg. Und sehen Sie: Keine Brille! Keine Kleider! Was bin ich glücklich! Ich kann’s gar nicht glauben, daß ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin. Wäre ich doch nur schon vor langer Zeit ein Hund geworden! Wie steht’s mit Ihnen, Herr Okada? Warum versuchen Sie’s nicht auch mal?«
Malta Kano nahm ihren verbleibenden Zuckerwürfel und schleuderte ihn nach dem Hund. Der Würfel schlug in Ushikawas Stirn ein und ließ tintenschwarzes Blut hervorquellen, das über Ushikawas Gesicht herabrann. Ushikawa schien das keine Schmerzen zu bereiten. Noch immer lächelnd hob er wortlos den Schwanz und spazierte von dannen. Es stimmte: Seine Hoden waren aberwitzig groß. Malta Kano trug einen Trenchcoat. Er war bis oben zugeknöpft, aber der zarte Duft nach nackter Frauenhaut verriet mir, daß sie darunter nichts trug. Natürlich hatte sie ihren roten Vinylhut auf. Ich hob meine Tasse und nahm einen Schluck Tee, aber er schmeckte nach gar nichts. Er war heiß, sonst nichts. »Ich bin so froh, daß Sie kommen konnten«, sagte Malta Kano. Sie klang aufrichtig erleichtert. Jetzt, wo ich sie zum erstenmal seit längerem wieder hörte, kam ihre Stimme mir etwas heiterer vor als früher. »Ich habe tagelang versucht, Sie telefonisch zu erreichen, aber Sie scheinen nie zu Haus gewesen zu sein. Ich machte mir allmählich schon Sorgen, es könnte Ihnen etwas zugestoßen sein. Gott sei Dank ist mit Ihnen alles in Ordnung. Was für eine Erleichterung es war, Ihre Stimme zu hören! Wie dem auch sei, ich muß mich dafür entschuldigen, daß ich so lange nichts von mir habe hören lassen. Ich kann jetzt nicht auf alles eingehen, was mir seither widerfahren ist, besonders nicht am Telefon, drum werde ich nur die wichtigsten Punkte zusammenfassen. Die Hauptsache ist, daß ich die ganze Zeit über auf Reisen gewesen bin. Ich bin erst vor einer Woche zurückgekommen. Herr Okada? Herr Okada? Können Sie mich hören?«
»Ja, ich kann Sie hören«, sagte ich, und erst da wurde mir bewußt, daß ich einen Telefonhörer ans Ohr hielt. Auch Malta Kano hatte, auf ihrer Seite des Tisches, einen Hörer in der Hand. Ihre Stimme klang so, als käme sie, über
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