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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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beruhigen, holte ich aus der hintersten Ecke des Küchenschranks eine alte Flasche Brandy hervor, goß mir ein Glas ein und trank es aus. Dann ging ich ins Schlafzimmer, um nach Oktopus zu sehen. Der Kater lag zusammengerollt unter der Steppdecke und schlief. Ich streifte die Decke zurück und nahm den Schwanz des Katers prüfend in die Hand. Ich fuhr mit den Fingern daran entlang und versuchte mich zu erinnern, wie weit genau die Spitze abgeknickt gewesen war, bis sich der Kater ärgerlich reckte und dann wieder einschlief. Ich hätte nicht mehr schwören können, daß dies genau derselbe Schwanz war, den der Kater besessen hatte, als er noch Noboru Wataya hieß. Irgendwie kam mir der Schwanz an Malta Kanos Po weit eher wie der echte Katzenschwanz von Noboru Wataya vor. Ich erinnerte mich noch deutlich an die Form und Farbe, die er im Traum gehabt hatte. Kreta Kanos Baby heißt Korsika, hatte Malta Kano in meinem Traum gesagt.
     
    Am nächsten Tag entfernte ich mich nicht weit vom Haus. Ich deckte mich im Supermarkt am Bahnhof mit Lebensmitteln ein und richtete mir ein Mittagessen. Dem Kater gab ich ein paar große frische Sardinen. Am Nachmittag ging ich ins Hallenbad. Es waren nicht viele Leute da. Wahrscheinlich waren alle mit Vorbereitungen für das Neujahrsfest beschäftigt. Aus den Deckenlautsprechern schallte Weihnachtsmusik. Ich war geruhsam tausend Meter geschwommen, als ich einen Krampf im Spann bekam und beschloß, es damit genug sein zu lassen. An der Wand über dem Becken hing ein großes Weihnachtsornament. Zu Hause fand ich zu meiner Überraschung im Briefkasten einen Brief vor - einen dicken. Ich wußte, von wem er kam, auch ohne auf den Absender zu sehen. Der einzige Mensch, der mir mit einer so schönen Handschrift und mit einem altmodischen Schreibpinsel schrieb, war Leutnant Mamiya. Sein Brief begann mit überschwenglichen Bitten um Entschuldigung dafür, daß er seit seinem letzten Brief so viel Zeit habe verstreichen lassen. Seine Worte waren von so erlesener Höflichkeit, daß ich fast das Gefühl hatte, ich sei derjenige, der sich hätte entschuldigen müssen.
     
    Ich hatte schon seit längerem vor, Ihnen einen weiteren Teil meiner Geschichte zu erzählen, und habe mich monatelang mit dem Gedanken getragen, Ihnen zu schreiben, aber immer wieder kamen Dinge dazwischen, die mich davon abgehalten haben, mich an den Schreibtisch zu setzen und den Stift zur Hand zu nehmen. Nun hat das Jahr, fast noch ehe ich es bemerkte, beinah seinen Kreislauf vollendet. Doch ich werde älter, und ich könnte jeden Tag sterben. Ich kann die Aufgabe nicht unbegrenzt hinausschieben. Dies könnte ein langer Brief werden - nicht zu lang für Sie, wie ich hoffe, Herr Okada. Als ich Ihnen letzten Sommer Herrn Hondas Andenken überbrachte, erzählte ich Ihnen eine lange Geschichte über meine Zeit in der Mongolei, aber tatsächlich gibt es noch mehr zu erzählen - eine » Fortsetzung « sozusagen. Es bestanden für mich mehrere Gründe, bei meinem letztjährigen Besuch diesen Teil auszusparen. Zunächst einmal wäre meine Geschichte, hätte ich diesen Teil vollständig erzählt, viel zu lang geworden.
    Sie werden sich vielleicht entsinnen, daß gewisse dringende Geschäfte mich zur Eile zwangen, und die Zeit hätte einfach nicht gereicht, Ihnen alles zu erzählen. Dann aber, und das war vielleicht noch wichtiger, fühlte ich mich damals noch nicht bereit, Ihnen oder wem auch immer den Rest meiner Geschichte mitzuteilen - sie vollständig und ehrlich zu erzählen.
    Nachdem ich mich jedoch von Ihnen verabschiedet hatte, begriff ich, daß ich mich nicht von praktischen Erwägungen hätte abhalten lassen dürfen. Ich hätte Ihnen alles rückhaltlos und bis zum Ende erzählen sollen.
     
    Während der blutigen Schlacht, die am 13. August 1945 am Stadtrand von Hailar wütete, wurde ich von einer Maschinengewehrkugel getroffen und verlor, während ich auf dem Boden lag, meine linke Hand unter der Lau kette eines sowjetischen T34. Bewußtlos, wie ich war, schaffte man mich in das sowjetische Militärkrankenhaus in Tschita, wo es den Ärzten gelang, mein Leben zu retten. Wie ich schon erwähnte, war ich als Landvermesser dem Generalstab der Kwantung-Armee zugeteilt gewesen, der sich, sobald die Sowjetunion Japan den Krieg erklären würde, planmäßig von Hsin-ching in die hinteren Linien zurückziehen sollte. Fest entschlossen zu sterben, hatte ich mich jedoch nach Hailar, in die Nähe der Grenze, versetzen lassen, wo ich

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