Mister Aufziehvogel
Russen waren auch einige wenige Frauen und Kinder, wahrscheinlich die verstreuten Überreste der Familien politischer Gefangener. Man ließ sie Abfälle einsammeln, Wäsche waschen und ähnliche Arbeiten verrichten. Junge Frauen dienten oft als Prostituierte. Außer den Russen brachten die Züge auch Polen, Ungarn und andere Ausländer herbei, darunter einige von dunklerer Hautfarbe (Armenier und Kurden, könnte ich mir vorstellen). Das Lager war in drei Bereiche unterteilt: einen, den größten, in dem die japanischen Kriegsgefangenen gehalten wurden, den Bereich für Verbrecher und andere Kriegsgefangene und den Bereich für Nichtkriminelle. In letzterem wohnten reguläre Bergwerksarbeiter und Bergbauingenieure, Offiziere und Angehörige des militärischen Wachpersonals, zum Teil mit Familie, sowie gewöhnliche russische Bürger. In der Nähe des Bahnhofs war außerdem eine größere Armee-Einheit stationiert. Kriegsgefangenen und anderen Sträflingen war es strengstens untersagt, den ihnen jeweils zugeteilten Bereich zu verlassen. Die Bereiche waren durch dichte Stacheldrahtzäune voneinander getrennt, entlang denen mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten patrouillierten.
Als Dolmetscher und Verbindungsmann mußte ich mich täglich in der Zentrale melden und durfte mich im Prinzip im ganzen Lager frei bewegen, solange ich meinen Passierschein vorwies. In der Nähe der Lagerzentrale befand sich die Bahnstation sowie eine aus einer einzigen Straße bestehende Siedlung mit ein paar schäbigen Läden, einer Kneipe und einem Gasthof für Parteifunktionäre und höhere Offiziere auf Inspektionsreise. Der zentrale Platz war von Pferdetrögen gesäumt, und in der Mitte erhob sich ein Fahnenmast, an dem eine große rote Fahne der UdSSR flatterte. Unter der Fahne parkte ein Panzerfahrzeug mit einem Maschinengewehr, an das immer ein gelangweilt aussehender junger Soldat in voller Montur gelehnt stand. Am hinteren Ende des Platzes befand sich das neu erbaute Militärkrankenhaus, mit einer großen Stalin-Statue am Eingang.
Jetzt muß ich Ihnen von einem bestimmten Mann erzählen. Ich begegnete ihm im Frühjahr 1947, wahrscheinlich gegen Anfang Mai, als der Schnee endlich geschmolzen war. Ich lebte schon seit anderthalb Jahren im Lager. Als ich den Mann zum erstenmal s ah, trug er die Uniform, in die alle russischen Sträflinge gekleidet wurden. Er führte zusammen mit vielleicht zehn seiner Landsleute nahe dem Bahnhof Ausbesserungsarbeiten durch. Sie zerschlugen Steine und breiteten den Schotter auf der Straße aus. Das Klirren der Vorschlaghämmer auf den harten Steinen war weit und breit zu hören. Ich hatte in der Lagerdirektion einen Bericht abgeliefert und befand mich gerade auf dem Rückweg, als ich am Bahnhof vorbeikam. Der Unteroffizier, der die Straßenarbeiten beaufsichtigte, hielt mich an und befahl mir, meinen Passierschein vorzuzeigen. Ich holte ihn aus der Tasche und reichte ihn ihm. Der Feldwebel, ein großer, stämmiger Mann, starrte eine Zeitlang zutiefst argwöhnisch auf das Dokument, aber er war offensichtlich Analphabet. Er rief einen der Sträflinge, die an der Straße arbeiteten, zu sich herüber und befahl ihm, das Schriftstück laut vorzulesen. Dieser Gefangene hob sich von den übrigen in seiner Gruppe deutlich ab: Er hatte das Aussehen eines kultivierten Mannes. Und er war es. Als ich ihn sah, spürte ich, wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich. Ich rang - buchstäblich - nach Atem. Ich fühlte mich so, als sei ich unter Wasser und ertränke. Ich bekam keine Luft.
Der kultivierte Gefangene war kein anderer als der russische Offizier, der am Ufer des Chalcha den mongolischen Soldaten befohlen hatte, Yamamoto bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen. Er war jetzt abgezehrt und fast kahl, und vorn fehlte ihm ein Zahn. Anstelle seiner fleckenlosen Offiziersuniform trug er schmierige Sträflingskleidung, und anstelle blanker Stiefel durchlöcherte Stoffschuhe. Die Gläser seiner Brille waren schmutzig und zerkratzt, das Gestell verbogen. Aber es war derselbe Mann, ohne jeden Zweifel. Es wäre mir unmöglich gewesen, ihn nicht wiederzuerkennen. Und er starrte seinerseits mich an, anfangs zweifellos nur durch meinen fassungslosen Gesichtsausdruck neugierig gemacht. Auch ich war in den vergangenen neun Jahren gealtert und abgemagert. Ich hatte mittlerweile sogar ein paar weiße Haare. Aber er schien mich nichtsdestoweniger wiederzuerkennen. Über sein Gesicht huschten Anzeichen von Verblüffung. Er
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