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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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    In meiner Eigenschaft als Dolmetscher fungierte ich als Verbindungsmann zwischen den japanischen Kriegsgefangenen und deren sowjetischen Bewachern. Ich weiß nicht, wie es in den anderen sibirischen Konzentrationslagern zuging, aber in dem Bergwerk, in dem ich arbeitete, starben die Menschen wie die Fliegen. Es herrschte auch kein Mangel an Todesursachen: Unterernährung, Überarbeitung, Einstürze, Wassereinbrüche, katastrophale hygienische Verhältnisse und daraus erwachsende Seuchen, unvorstellbare Winterkälte, gewalttätige Wachen, die brutale Unterdrückung selbst des zaghaftesten Widerstands. Es kam auch immer wieder einmal vor, daß Japaner von ihren eigenen Landsleuten gelyncht wurden. Menschen, die unter solchen Bedingungen leben mußten, konnten einander nur Haß, Argwohn, Angst und Verzweiflung entgegenbringen.
     
    Immer, wenn die Zahl der Todesfälle eine kritische Grenze erreichte und die Produktivität des Bergwerks zurückzugehen begann, schafften sie ganze Zugladungen neuer Kriegsgefangener herbei. Diese Männer waren in Lumpen gekleidet, zu Skeletten abgemagert, und gute fünfundzwanzig Prozent von ihnen starben - zu schwach, um die harten Arbeitsbedingungen im Bergwerk zu ertragen - bereits während der ersten wenigen Wochen. Die Toten wurden in aufgegebene Bergwerksschächte geworfen. Es wäre unmöglich gewesen, für sie alle Gräber auszuheben. Der Boden war das ganze Jahr über gefroren. Schaufeln drangen nur wenige Zentimeter tief ein. Und so waren die aufgegebenen Schächte die ideale Endlagerstätte für die Toten. Sie waren tief und dunkel, und die Kälte ließ keinen Verwesungsgeruch aufkommen. Ab und zu schütteten wir eine Lage Kohlen auf die Leichen. Wenn ein Schacht voll war, wurde er mit Erde und Steinen abgedeckt, und man zog zum nächsten Schacht weiter. Die Toten waren nicht die einzigen, die in die Schächte geworfen wurden. Gelegentlich warf man zur Abschreckung von uns übrigen auch Lebende hinein. Jeder japanische Soldat, der auch nur die leisesten Anzeichen von Widersetzlichkeit erkennen ließ, wurde von den sowjetischen Wachen vorgeholt, brutal zusammengeschlagen und mit gebrochenen Armen und Beinen in die Grube gestoßen. Noch heute kann ich ihre erbarmungswürdigen Schreie hören. Es war buchstäblich die Hölle auf Erden.
    Als strategisch wichtige Produktionsstätte unterstand das Bergwerk vom Zentralkomitee entsandten Mitgliedern des Politbüros und wurde von der Armee strengstens überwacht. Der Mann an der Spitze - er stammte, wie man sich erzählte, aus Stalins Heimatstadt - war ein kalter, harter Parteifunktionär, noch jung und voller Ehrgeiz. Sein ausschließliches Interesse galt der Steigerung der Produktionszahlen. Der Verbrauch an Arbeitskräften berührte ihn nicht weiter. Solange die Produktionszahlen in die Höhe gingen, würde das Zentralkomitee sein Bergwerk als Musterbetrieb ansehen und ihn mit verstärkten Zuteilungen von Arbeitskräften belohnen. Wie viele Arbeiter auch sterben mochten, es gab immer Ersatz für sie. Um die kontinuierliche Produktionssteigerung aufrechtzuerhalten, gestattete er auch die Ausbeutung von Flözen, die unter normalen Umständen als zu einsturzgefährdet betrachtet worden wären. Die zwangsläufige Folge war natürlich, daß auch die Unfallzahlen kontinuierlich in die Höhe gingen, aber das kümmerte den Direktor nicht.
    Der Lagerkommandant war nicht das einzige kaltherzige Individuum auf sowjetischer Seite. Die meisten der im Bergwerk beschäftigten Wachen waren ehemalige Sträflinge, ungebildete Männer von unvorstellbarer Grausamkeit und Unnachsichtigkeit. Sie zeigten keinerlei Mitgefühl oder Anteilnahme, als ob das Leben dort am Rand der Welt, in der eisigen Luft Sibiriens, sie im Laufe der Jahre in Untermenschliche Kreaturen verwandelt hätte. Sie hatten Verbrechen begangen und waren in sibirische Lager deportiert worden, aber jetzt, nach Verbüßung ihrer langen Strafen, hatten sie kein Zuhause, keine Angehörigen mehr, zu denen sie hätten zurückkehren können. Sie hatten sich einheimische Weiber genommen, hatten mit ihnen Kinder in die Welt gesetzt und sich endgültig auf sibirischem Boden niedergelassen.
    Die japanischen Kriegsgefangenen waren nicht die einzigen Zwangsarbeiter im Bergwerk. Es gab auch viele russische Kriminelle, politische Gefangene und ehemalige Offiziere, die Stalins Säuberungen zum Opfer gefallen waren. Nicht wenige von ihnen waren gebildete, äußerst kultivierte Männer. Unter den

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