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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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haben, ohne mir dessen bewußt zu sein? Nein, bestimmt nicht - außer es gab noch ein zweites »ich«. »Herr Okada«, sagte jemand nahe bei mir in der Dunkelheit. Mein Herz machte einen Satz. Ich hatte keine Ahnung, wo die Stimme hergekommen war. Mit angespannten Muskeln bohrte ich die Augen ringsum in die Dunkelheit, aber natürlich konnte ich nichts sehen.
    »Herr Okada«, sagte die Stimme noch einmal. Eine leise Männerstimme. »Keine Angst, Herr Okada, ich stehe auf Ihrer Seite. Wir sind uns hier schon einmal begegnet. Erinnern Sie sich?«
    Ich erinnerte mich. Ich kannte diese Stimme. Sie gehörte dem Mann ohne Gesicht. Aber ich mußte mich in acht nehmen. Ich war nicht bereit zu antworten. »Sie müssen diesen Ort so schnell wie möglich verlassen, Herr Okada. Sobald das Licht wieder angeht, werden sie sich auf die Suche nach Ihnen machen. Folgen Sie mir: Ich weiß eine Abkürzung.«
    Der Mann schaltete eine winzige Taschenlampe ein. Sie warf nur einen dünnen Strahl, aber er genügte, um mir zu zeigen, wo ich hintreten sollte. »Hier entlang«, drängte der Mann. Ich rappelte mich hoch und hastete ihm nach. »Sie waren’s doch bestimmt, der das Licht für mich ausgeschaltet hat, nicht?« fragte ich den Mann von hinten. Er gab keine Antwort, aber er bestritt es auch nicht. »Danke«, sagte ich. »War ganz schön knapp.«
    »Das sind sehr gefährliche Leute«, sagte er. »Weit gefährlicher, als Sie denken.« Ich fragte ihn: »Stimmt es wirklich, daß Noboru Wataya verprügelt worden ist und jetzt deswegen im Krankenhaus liegt?«
    »So hieß es im Fernsehen«, sagte der Mann. Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich hab’s aber nicht getan«, sagte ich. »Zu dem Zeitpunkt war ich in einem Brunnen, allein.«
    »Wenn Sie das sagen, wird es bestimmt so gewesen sein«, sagte der Mann nüchtern. Er öffnete eine Tür und begann, mit der Taschenlampe auf seine Füße leuchtend, vorsichtig eine Treppe hinaufzusteigen. Es war eine so lange Treppe, daß ich irgendwann die Übersicht verlor und nicht mehr wußte, ob wir auf- oder abwärts stiegen. Ich war mir nicht einmal sicher, daß das hier wirklich eine Treppe war.
    »Haben Sie jemanden, der beschwören könnte, daß Sie zur fraglichen Zeit im Brunnen waren?« fragte der Mann, ohne sich umzudrehen. Ich sagte nichts. Einen solchen Jemand gab es nicht.
    »In dem Fall wäre es das Klügste, wenn Sie fliehen würden. Für sie steht fest, daß Sie der Täter sind.«
    »Wer sind ›sie‹?«
    Am oberen Treppenabsatz angelangt, bog der Mann nach rechts ab, öffnete nach wenigen Schritten eine Tür und trat auf einen Korridor. Dort blieb er stehen, um sich zu vergewissern, daß alles still war. »Wir müssen uns beeilen. Halten Sie sich an meiner Jacke fest.«
    Ich klammerte mich wie befohlen an den unteren Saum seiner Jacke. Der Mann ohne Gesicht sagte: »Diese Leute kleben immer am Bildschirm. Deswegen hat man hier eine solche Abneigung gegen Sie. Die Leute mögen den älteren Bruder Ihrer Frau sehr.«
    »Wissen Sie denn, wer ich bin?« fragte ich. »Ja, natürlich.«
    »Dann wissen Sie also auch, wo Kumiko jetzt ist?«
    Der Mann sagte nichts. Ich hielt mich gut an den Schößen seiner Jacke fest, als spielten wir irgendein Spiel im Dunkeln: um eine weitere Ecke rennen, eine kurze Treppe hinab, durch eine kleine Geheimtür, einen niedrigen versteckten Gang entlang, auf einen weiteren Korridor. Die seltsame, verschlungene Route, auf der der gesichtslose Mann mich geführt hatte, kam mir wie eine endlose Wanderung durch die Eingeweide einer gigantischen Bronzefigur vor. »Es verhält sich so, Herr Okada: Ich bin nicht über alles unterrichtet, was hier geschieht. Das hier ist ein großes Haus, und meine Zuständigkeit beschränkt sich auf das Foyer und dessen nähere Umgebung. Es gibt vieles, wovon ich überhaupt nichts weiß.«
    »Wissen Sie etwas über den pfeifenden Kellner?«
    »Nein. Es gibt gar keine Kellner hier, weder pfeifende noch sonstige. Wenn Sie hier irgendwo einen Kellner gesehen haben, dann war er in Wirklichkeit keiner: Es war irgend etwas, das vorgab, ein Kellner zu sein. Ich habe Sie zwar nicht gefragt, aber Sie wollten doch zum Zimmer 208, richtig?«
    »Richtig. Ich soll mich da mit einer gewissen Frau treffen.« Dazu hatte der Mann nichts zu sagen. Er erkundigte sich weder nach der Frau noch danach, was ich mit ihr zu tun hatte. Er ging weiter den Korridor entlang, mit dem selbstsicheren Schritt eines Mannes, der sich auf vertrautem Terrain befindet,

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