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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sondern weil ich es einfach tun mußte. Ich hörte etwas wie eine Frucht in der Dunkelheit platzen. Wie eine Wassermelone. Ich blieb reglos stehen, den Schläger fest umklammert, schräg aufwärts vor mir ausgestreckt. Dann wurde mir bewußt, daß ich zitterte. Am ganzen Körper. Und ich konnte nichts dagegen tun. Ich trat einen Schritt zurück und zog die Taschenlampe heraus.
    »Nicht!« schrie eine Stimme in der Dunkelheit. »Sieh es nicht an!« Kumikos gellende Stimme drang aus dem Hinterzimmer herüber und versuchte, mich davon abzuhalten, daß ich hinsah. Aber ich mußte hinsehen. Ich mußte es sehen. Ich mußte wissen, was es war, dieses Ding im Zentrum der Finsternis, das ich gerade zerschmettert hatte. Ein Teil von mir verstand, was Kumiko mir da verbot. Sie hatte recht: Ich sollte es nicht ansehen. Aber jetzt hatte ich die Lampe in der Hand, und diese Hand bewegte sich von selbst.
    »Bitte, ich flehe dich an, tu’s nicht!« schrie sie. »Schau es nicht an, wenn du mich hier rausholen willst!«
    Ich biß die Zähne zusammen und entließ lautlos die Luft, die ich in meinen Lungen eingeschlossen hatte. Noch immer wollte das Zittern nicht nachlassen. In der Luft hing ein ekelerregender Geruch - nach Hirnmasse, Gewalt und Tod. Ich hatte das bewirkt: Ich war es, der die Luft dazu gebracht hatte, so zu riechen. Ich fand das Sofa und sackte darauf zusammen. Eine Zeitlang kämpfte ich gegen die Übelkeit an, die in meinem Magen aufwallte, aber die Übelkeit siegte. Ich erbrach alles, was ich im Magen hatte, auf den Teppich, und als das draußen war, würgte ich Magensaft hervor, dann Luft und Speichel. Während ich mich übergab, ließ ich den Schläger auf den Boden fallen. Ich hörte ihn in der Dunkelheit davonrollen.
    Als die Magenkrämpfe nachzulassen begannen, wollte ich mein Taschentuch herausholen, um mir den Mund abzuwischen, aber ich konnte die Hand nicht bewegen. Ich konnte nicht vom Sofa aufstehen. »Gehen wir heim«, sagte ich in die Dunkelheit des Schlafzimmers hinein. »Es ist alles vorbei. Laß uns gehen.« Sie antwortete nicht.
    Da drinnen war niemand mehr. Ich ließ mich auf das Sofa zurückfallen und schloß die Augen.
    Ich spürte, wie mir die Kraft schwand - aus Fingern, Schultern, Nacken, Beinen … Auch der Wundschmerz begann nachzulassen. Mein Körper verlor jedes Gefühl für seine Masse und Substanz. Aber das machte mir keine Sorgen, keine Angst. Ohne Widerspruch ergab ich mich - überließ ich meinen Körper - einem gewaltigen warmen Etwas, das sich vollkommen natürlich näherte, um mich zu umfangen. Ich begriff, daß ich die Gelee-Wand passierte. Ich brauchte nichts zu tun, als mich dem sanften Fluß zu überlassen. Ich komme nie wieder hierher zurück, sagte ich zu mir, während ich durch die Wand trieb. Alles war zu Ende. Aber wo war Kumiko? Wohin war sie verschwunden? Ich sollte sie doch aus dem Zimmer herausholen. Deswegen hatte ich den Mann getötet. Deswegen hatte ich ihm den Schädel wie eine Wassermelone spalten müssen. Deswegen hatte ich … Aber ich konnte nicht mehr denken. Mein Bewußtsein versank in einem tiefen See von Nichts.
     
    Als ich zu mir kam, saß ich wieder in der Dunkelheit. Mein Rücken lehnte, wie immer, an der Wand. Ich war auf den Grund des Brunnens zurückgekehrt. Aber es war nicht der gewohnte Brunnenboden. Es war etwas Neues da, etwas Ungewohntes. Ich versuchte, meine Geisteskräfte zu sammeln, zu erkennen, was da vor sich ging. Was war so anders? Aber meine Sinne befanden sich noch immer in einem Zustand fast vollständiger Lähmung. Ich nahm meine Umgebung nur ausschnittweise, bruchstückhaft wahr. Ich fühlte mich, als sei ich versehentlich in den falschen Behälter gefüllt worden. Nach einer Weile begann ich jedoch zu begreifen, was los war. Wasser. Ich war von Wasser umgeben.
    Der Brunnen war nicht mehr trocken. Ich saß bis zur Hüfte im Wasser. Ich atmete mehrmals tief durch, um mich zu beruhigen. Wie war das möglich? Der Brunnen gab Wasser - kein kaltes allerdings. Eigentlich fühlte es sich sogar eher warm an. Ich kam mir vor wie in einem Badezuber. Da fiel mir ein, ich sollte in meine Tasche greifen. Ich wollte wissen, ob die Taschenlampe noch da war. Hatte ich sie aus der anderen Welt mitgenommen? Bestand irgendeine Verbindung zwischen dem, was dort geschehen war, und dieser Wirklichkeit? Aber meine Hand gehorchte mir nicht. Ich konnte nicht einmal die Finger bewegen. Aus meinen Armen und Beinen war jede Kraft gewichen. Es war mir nicht

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