Mister Aufziehvogel
möglich aufzustehen. Ich versuchte, eine nüchterne Einschätzung meiner Lage vorzunehmen. Erstens reichte mir das Wasser nur bis zum Gürtel, ich brauchte also nicht zu befürchten, ich könnte ertrinken. Sicher, ich konnte mich zwar nicht bewegen, aber das lag wahrscheinlich daran, daß ich mich restlos verausgabt hatte. Mit der Zeit würden meine Kräfte wahrscheinlich zurückkehren. Die Schnittwunden schienen nicht sehr tief zu sein, und die Lähmung hatte zumindest den Vorteil, daß ich keine Schmerzen spürte. Die Blutung an meiner Wange schien aufgehört zu haben. Ich lehnte den Kopf wieder gegen die Wand und sagte mir: Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich war alles vorüber. Ich brauchte jetzt meinem Körper nur noch etwas Ruhe zu gönnen, und dann konnte ich zurück, in meine ursprüngliche Welt, die oberirdische Welt, wo das Sonnenlicht alles überflutete … Aber warum hatte dieser Brunnen so plötzlich wieder angefangen, Wasser zu geben? Er war so lange ausgetrocknet gewesen, tot, und jetzt war er wieder zum Leben erwacht. Konnte das in Zusammenhang mit dem stehen, was ich dort getan hatte? Ja, wahrscheinlich schon. Was immer die Wasserader blockiert hatte, es war wohl durch irgend etwas gelockert worden.
Kurz darauf wurde ich mit einer verhängnisvollen Tatsache konfrontiert. Anfangs sträubte ich mich dagegen, sie als solche anzuerkennen. Mein Verstand lieferte mir zu diesem Zweck eine ganze Reihe von Ausweichmöglichkeiten. Ich versuchte mir einzureden, es handle sich um eine Halluzination, ausgelöst durch die Verbindung von Dunkelheit und Erschöpfung. Aber zuletzt mußte ich die Wahrheit akzeptieren; sosehr ich auch versuchte, mir etwas vorzumachen, sie blieb bestehen. Der Wasserspiegel stieg.
Das Wasser war mir von der Gürtellinie bis zu den Kniekehlen meiner angezogenen Beine gestiegen. Es stieg langsam, aber es stieg. Wieder versuchte ich, meinen Körper zu bewegen. Unter Aufbietung all meines Willens versuchte ich, mir ein allerletztes Bißchen Kraft abzuringen, aber es war nutzlos. Ich brachte es gerade noch zuwege, den Kopf ein wenig in den Nacken zu legen. Ich blickte nach oben. Der Brunnen war noch dicht verschlossen. Ich versuchte, auf die Uhr an meinem linken Handgelenk zu sehen, aber ohne Erfolg.
Das Wasser drang durch eine Öffnung herein - und anscheinend mit zunehmender Geschwindigkeit. Während es anfangs nur hereingesickert war, kam es jetzt fast im Schwall. Das hörte ich. Bald reichte es mir bis zur Brust. Wie hoch würde es noch steigen?
Seien Sie vorsichtig mit Wasser, hatte Herr Honda zu mir gesagt. Ich hatte seiner Prophezeiung nie Beachtung geschenkt. Sicher, ich hatte sie auch nie vergessen (so etwas Verrücktes vergißt man nicht), aber ich hatte sie nicht ernst genommen. Herr Honda war für Kumiko und mich nur eine harmlose Episode gewesen. Wenn sich gelegentlich ein Anlaß ergab, wiederholte ich zum Scherz seine Worte: »Seien Sie vorsichtig mit Wasser!« Und dann lachten wir beide. Wir waren jung, und wir hatten keinen Bedarf an Prophezeiungen. Allein schon zu leben war für uns ein prophetischer Akt. Aber Herr Honda hatte recht gehabt. Ich hätte fast laut losgelacht. Das Wasser stieg, und ich saß in der Patsche. Ich dachte an May Kasahara. Ich gebrauchte meine Phantasie und stellte mir vor, wie sie den Brunnendeckel öffnete - stellte es mir völlig klar und realistisch vor. Das Bild war so deutlich und überzeugend, daß ich hätte hineinsteigen können. Ich konnte den Körper nicht rühren, aber meine Phantasie funktionierte noch. Was sollte ich auch sonst tun?
»He, Mister Aufziehvogel«, sagte May Kasahara. Ihre Stimme hallte den Brunnenschacht hinauf und hinunter. Mir war bisher nicht klar gewesen, daß ein Brunnen mit Wasser darin stärker hallt als einer ohne Wasser. »Was treiben Sie da unten? Wieder mal nachdenken?«
»Ich tue eigentlich nichts Bestimmtes«, sagte ich, das Gesicht nach oben gewandt. »Ich habe jetzt keine Zeit für lange Erklärungen, aber ich kann meinen Körper nicht bewegen, und hier drinnen steigt das Wasser. Das ist kein trockener Brunnen mehr. Ich könnte ertrinken.«
»Armer Mister Aufziehvogel!« sagte May Kasahara. »Sie sind völlig erschöpft von Ihren Versuchen, Kumiko zu retten. Und wahrscheinlich haben Sie sie sogar gerettet. Stimmt’s? Und nebenbei haben Sie auch eine ganze Menge anderer Leute gerettet. Aber sich selbst haben Sie nicht retten können. Und es konnte Sie auch sonst niemand retten.
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