Mister Peanut
wurde von der ersten Minute an wie ein privilegierter Gast behandelt, der versorgt und aus der Ferne vom Vater finanziell unterstützt wurde, im Grunde aber auf sich allein gestellt war.
Wie Alice schon gesagt hatte, sahen Ladd und Karen nach dem Abendessen fern, sie ließen sich von Charles’ und Dianas Besuch in Australien fesseln. Ihre »Eltern« hatten im Wohnzimmer zwei große Sessel vor dem Fernsehgerät aufgestellt, in denen sie nun saßen, während Alice am anderen Ende des Raumes vor dem Kamin lag, einen Archie-Comic las und eine kernlose Orange aß. Der Fernsehton war voll aufgedreht, Regen und Wind peitschten aufs Dach. Gelegentlich drehten Onkel oder Tante den Kopf, um etwas zu sagen, aber die Worte gingen im Knistern des Feuers, dem Sturm, dem Fernsehkommentar unter. Und dann fing Alice zu würgen an.
Es kam unerwartet und erschreckend plötzlich, so als würde sie beim Schwimmen von hinten gepackt und unter Wasser gedrückt. Gleichzeitig kam es ihr so vor, als spiele ihr Körper ihr einen Streich, indem er alle Luft aus ihrer Lunge quetschte. Einen Moment lang wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte, sie war seltsam beschämt, als hätte sie in einem Raum voller Menschen gefurzt. Sie hielt sich die gekrümmte Hand an den Mund, um die Masse aufzufangen, die sie ausspucken würde, und würgte nach Leibeskräften. Aber in ihrem Hals tat sich nichts, und nichts kam heraus als ein leises Quaken. Sie würgte noch einmal und hörte vor Anstrengung ein Knacken in ihren Ohren. Sie lag bereits am Boden des Pools, alle Luftblasen waren aus ihrem Mund gestiegen. Sie schaute hinauf. Ladd und Karen schwiegen und konzentrierten sich auf den Fernsehschirm. Sie konnte lediglich ihre Hinterköpfe über den Rückenlehnen sehen und reckte eine Hand zu diesen verborgenen Gestalten, bis ihr Arm schließlich bleischwer auf den Teppich sank. Sie krümmte sich zusammen und griff sich an den Hals. Es war wie Zauberei oder als wäre sie erschossen worden. Eine riesige Blase in ihrem Innern war geplatzt und hatte sich mit all ihrer Energie auf den Teppich ergossen. An den Rändern ihres Blickfelds züngelten kleine, schwarze Flammen, und plötzlich wurde ihr bewusst, was sie geahnt hatte, seit sie bei ihrem Onkel und der Tante eingezogen war, was sie gefühlt hatte, seit ihre Mutter gestorben war und ihr Vater sie verlassen hatte; sie hatte es gesehen, wann immer sie Karen und Ladd von ihrem Tag erzählte und daraufhin Fragen zu hören bekam, die ihre Schilderung zuvor eigentlich längst beantwortet hatte, oder wenn einer der beiden mitten im Gespräch vom Tisch aufstand, um ans Telefon zu gehen; es hatte in allen Möbeln des Hauses gesteckt, in den Porzellanfiguren auf den Anrichten und Beistelltischchen, an deren Zerbrechlichkeit Alice immer wieder erinnert wurde, es hatte in dem stets unabgeschlossenen Waffenschrank gesteckt, in den zwei Fernsehsesseln, die ohne jede Rücksicht auf das Kind angeschafft worden waren. Sie hätte es nur bis zu diesem Moment nicht in Worte fassen können.
Sie würde sich selbst retten müssen.
Sie lenkte ihre gesamte Aufmerksamkeit nach innen, auf die Handvoll nasser Masse in ihrem Hals; sie richtete all ihre Muskelkraft auf ihre Speiseröhre. Sie drückte ihre Zunge an die unteren Schneidezähne und zwang sich zu würgen, um ihre Atemwege zu befreien, aber nichts passierte. Als sie abermals würgte, spürte sie ihren Zungenansatz, und ihr Kopf begann zu wackeln. Es war, als würden ihre Schläfen aufplatzen. Sie versuchte es noch einmal, fühlte sich dabei jedoch, als versuche sie ein Auto hochzustemmen; es war aussichtslos. Sie wurde sich der Saugkraft des Pfropfes bewusst, der wie angegossen saß und nahtlos mit ihrer Kehle abschloss. Nun bestand sie nur noch aus Kopf, Hals und Rumpf; ihre Glieder waren davongespült worden wie Sand vom Wasser.
Sie begann zu schweben und hatte das Gefühl, in dunkelster Nacht unter Wasser zu treiben. Sie würde an die Oberfläche kommen und atmen oder endgültig untergehen, man konnte es noch nicht genau sagen. Eigentlich ein angenehmes Gefühl, fast ähnelte es der reinsten Vorfreude. Sie unternahm eine letzte Anstrengung – eigentlich so aussichtslos wie der Versuch, in absoluter Finsternis die eigene Hand erkennen zu wollen.
Und dann war sie tot.
Sie wusste es, und eigentlich war ihr das Gefühl beinahe vertraut. Es handelte sich um einen besonderen Bewusstseinszustand, um ein ewiges Jetzt – so wie bei einem Embryo, dachte sie, sie war ganz und
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