Mister Peanut
haben.«
Sie nickte wieder. Ihre Arme zitterten.
»Auf drei«, sagte er.
Er zählte laut, presste seine linke Hand und die linke Wange an den Felsen, stemmte seinen linken Fuß in den Pfad und den Unterschenkel an die Klippe. Er ging leicht in die Knie und belastete die Außenkante seines rechten Fußes mit seinem halben Körpergewicht. Er ließ die Finger seiner rechten Hand um Alice’ Handgelenk gleiten, zunächst mit sanftem Druck und dann, als er sicher sein konnte, sie nicht zu erschrecken, mit aller Kraft.
»Drei«, sagte er.
Sie packte sein Handgelenk. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Sie hätte ihn im Stich lassen können, hätte sich hinunterstürzen können, um ihm zu trotzen oder um ihn zu retten, je nachdem; sie hätte es tun können, damit nur sie ums Leben kam, aber genauso gut hätte sie ihn an sich reißen und damit sie beide umbringen können. Aber sie tat nichts dergleichen. Sie packte sein Handgelenk so fest, wie er das ihre hielt, und bemühte sich zu tun, was von ihr verlangt wurde.
Ihr gesamtes Gewicht schoss durch seine Hand in seinen Unterarm und von dort über den Bizeps in seine Schulter, bis ihr Leben seine komplette rechte Körperhälfte erfüllte. Mit all seiner Kraft zog er sie gerade nach oben, aber als sie den rechten Fuß heraufgezogen hatte, spürte er ihre Vorwärtsbewegung. Es ging nicht anders; der Rucksack ließ ihr keine andere Wahl. Er schloss die Augen, vor Anstrengung und vor Angst, und als sie aufrecht stand, die Außenkante ihres rechten Fußes gegen den seinen gestemmt, spürte er, wie ihr ganzer Körper mit vorgebeugtem Torso und weit über die Fußspitzen herausgestrecktem Kopf über der Kante hing wie der eines Skispringers im Flug. Ihr linker Arm vollführte eine kreisende Bewegung, wieder und wieder ruderte er im Uhrzeigersinn durch die Luft, um sie ins Gleichgewicht zu bringen. Sie schaffte es tatsächlich aufzustehen, aber als er kurz die Augen öffnete, musste er erkennen, dass er sekundenlang das einzige Gegengewicht zu ihr bildete, genauso wie sie ihn davon abhielt vorwärtszustürzen. In diesem Bruchteil einer Sekunde zerrten sie mit aller Kraft aneinander und bildeten eine Art Bogen. Endlich lehnte sie sich zurück – auf den letzten Zentimetern ganz sanft – und stand wieder auf eigenen Füßen; dann richtete sie sich gerade auf.
»Hast du’s?«, fragte er.
Er hielt ihre Hand; sie hielt die seine. Ihr Kinn war immer noch steil emporgereckt. Wie er sich vorstellte, sah sie nichts als den Himmel. Und dann stieß sie ein Schluchzen aus, einen einzigen, deutlichen Laut der Erleichterung.
»Ich hab’s«, sagte sie.
Sie stand immer noch mit dem Gesicht zum Meer und lehnte mit dem Rucksack an der Felswand. Sie holte tief Luft, dann atmete sie aus. Ihrer beide Hände, immer noch ineinander verschlungen, zitterten. Ein Helikopter flog in ihre Richtung, und der unglaubliche Krach des Motors zerriss den Augenblick. Alice schaute zu, wie er abdrehte und über ihre Köpfe hinwegflog; dann erst drehte sie sich zu David um.
Davon ein Foto zu haben, von dieser Miene seiner Frau: Ihr Gesicht verrät Erschöpfung und Kummer und Euphorie und das Gefühl, gerettet worden zu sein und sich selbst gerettet zu haben. Ein Foto von ihrer Erleichterung . Von dem Gefühl, etwas Schreckliches durchgestanden zu haben. Er fragte sich, ob alle Frauen so aussahen, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hatten. Hatte auch sie diesen Ausdruck der Verwunderung und der Schmerzen im Gesicht gehabt, des Verlustes und des Gewinns? Mit einem so hohen Risiko ging der Vorgang einher, dachte David. Neues Leben zu zeugen konnte einem das Herz brechen. Ihr Gesicht wirkte so rätselhaft wie das der Mona Lisa, es verriet, was er niemals würde erfahren können. Er versuchte, das Bild im Gedächtnis zu behalten, aber irgendwann verschwand es doch, und anschließend war es ihm nie wieder möglich, sich an alle Freuden und alle Schmerzen seiner Ehe zu erinnern.
Alice sagte, sie hätten vor ihrer Abreise noch eine letzte Pflicht zu erfüllen: die Asche ihres Kindes zu verstreuen. Sie wusste genau, wo das geschehen sollte, und nachdem sie es David erzählt hatte, rief er Harold an, der die nötigen Vorkehrungen traf.
»Hat sie Ihnen verziehen?«, fragte er.
»Ich glaube schon«, sagte David.
»Nun, dann müssen Sie sich nur noch selbst verzeihen.«
David bedankte sich für alles und verabschiedete sich. Harold buchte ihnen einen Helikopterflug über die Insel, der am Flughafen von
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