Mistreß Branican
dieser Gîn-Ghi hieß, so verdiente er wirklich diesen Namen, denn das bedeutete so viel, wie »gleichgiltiger Mensch«. Er war gleichgiltig, und zwar in einem seltenen Grade, gegen jede Gefahr und jeden Befehl: Er hätte nicht zehn Schritte gethan, um einen Befehl auszuführen, nicht zwanzig, um einer Gefahr aus dem Wege zu gehen. Jos Meritt mußte schon eine starke Natur haben, um einen solchen Diener zu behalten; aber das kam wirklich nur auf die Gewohnheit an, denn beide reisten schon seit fünf oder sechs Jahren. Sie hatten sich zufällig in San-Francisco getroffen, wo die Chinesen wie die Ameisen herumlaufen, und der Engländer nahm den Mann nun, »auf Probe« wie er sagte, in seine Dienste, eine Probe, die wahrscheinlich bis zum Tode dauern würde. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß Gîn-Ghi in Hong-Kong geboren war und das Englische wie ein Bewohner von Manchester sprach.
Jos Meritt war Phlegmatiker durch und durch. Wenn er Gîn-Ghi auch mit den grausamsten Torturen bedrohte, die im Himmlischen Reiche nur in Gebrauch sind, so würde er ihm doch nicht einmal einen Nasenstüber versetzt haben. Wurden seine Befehle nicht aus geführt, gut, so führte er sie selbst aus, das war ganz einfach. Aber dieser Chinese mußte seinem Herrn überall folgen, wohin die Phantasie dieses Original trieb. Er hätte eher das Gepäck seines Bedienten auf den Schultern getragen, als Gîn-Ghi zurückgelassen, wenn der Zug oder das Schiff abfahren wollte. Der gleichgiltige Mensch folgte ihm auf Schritt und Tritt durch die Tausende von Meilen in der Alten und Neuen Welt, und so kam es denn auch, daß diese Beiden in die Hauptstadt von Südaustralien gelangten.
»Gut!… O!… Sehr gut! sagte an jenem Abend Jos Meritt. Ich glaube, unsere Dispositionen sind getroffen?«
Man kann sich zwar kaum erklären, warum er erst Gîn-Ghi danach fragte, da er doch Alles selbst vorbereiten mußte. Aber er unterließ solche Fragen nie, schon aus Princip.
»Zehntausendmal getroffen, erwiderte der Chinese, der sich gewisse Redensarten der Bewohner des Himmlischen Reiches nicht abgewöhnen konnte.
– Unsre Koffer?
– Sind gepackt.
– Unsre Waffen?
– Sind bereit.
– Unsre Lebensmittel?
– Die haben Sie ja selbst auf den Bahnhof getragen, Mr. Jos. Uebrigens ist es denn nothwendig, sich mit Lebensmitteln zu versehen… wenn man ja früher oder später persönlich aufgefressen werden kann…
– Aufgefressen werden, Gîn-Ghi?… O, sehr gut!… Sehr gut!… Du glaubst also, daß Du aufgefressen werden wirst?
– Freilich, früher oder später… Hat nicht vor sechs Wochen nur wenig daran gefehlt, daß wir unsere Reisen in dem Bauche eines Cannibalen abgeschlossen hätten… besonders ich!
– Du… Gîn-Ghi?
– Ja, weil ich so fett bin, während Sie, Mr. Jos, sehr mager sind, und diese Leute mir den Vorzug geben!
– Den Vorzug?… Gut!… O!… Sehr gut!
– Und haben die Eingebornen von Australien nicht einen besonderen Geschmack für das gelbe Fleisch der Chinesen, das noch viel besser ist, als ihr Reis und ihr Gemüse?
– Deshalb habe ich Dir immer empfohlen zu rauchen, Gîn-Ghi, erwiderte der phlegmatische Engländer. Du weißt doch, daß die Menschenfresser das Fleisch der Raucher nicht lieben.«
Das that auch der vorsichtige »Himmlische«, indem er zwar nicht Opium, wohl aber Tabak rauchte, den ihm Jos Meritt reichlich lieferte. Da, wie es scheint, die Australier, wie ihre cannibalischen Mitbrüder andrer Länder, einen Ekel vor dem Fleische eines Rauchers haben, weil es mit Nicotin imprägnirt ist, so trachtete der Chinese danach, sich so weit wie möglich ungenießbar zu machen.
Aber war es denn wirklich wahr, daß er und sein Herr bei den Menschenfressern gewesen waren, und zwar nicht als Gäste? Ja, an der australischen Küste waren Beide nahe daran gewesen, auf so unmenschliche Weise ihr Dasein abzuschließen. Vor zehn Monaten fielen sie in Queensland den wildesten Stämmen der Cannibalen in die Hände und wären sicher gefressen worden, wenn die Polizei sie nicht zur rechten Zeit befreit hätte. Sie kamen daher wieder in die Hauptstadt von Queensland, dann nach Sydney, von wo sie der Postdampfer nach Adelaïde brachte. Aber dies hinderte die Beiden durchaus nicht, eine Reise in das centrale Australien anzutreten.
»Und dies Alles wegen eines Hutes! rief der Chinese. Ay ya… Ay ya!… Wenn ich daran denke, möchte ich bitterlich weinen!
– Wann wirst Du damit fertig sein… Gîn-Ghi? erwiderte Jos Meritt, die
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