Mit 50 hat man noch Träume
hinter seinem Vater zurück, der zum Tempel ging, um neue
Räucherstäbchen anzuzünden.
»Komm rüber,
ich zeige ihn dir, wenn du willst«, rief er.
Bruni ließ
auf der Stelle den Besen stehen und überquerte die Straße.
»Er sieht
klasse aus«, sagte sie bewundernd, aber jetzt möchte ich endlich wissen, wie ihr
das gemacht habt, ohne dass auch nur irgend jemand etwas gemerkt hat.« In Erwartung
seiner Antwort sah sie ihn neugierig an. Dabei registrierte sie, dass er in Jeans
und T-Shirt umwerfend gut aussah.
Seit einigen
Tagen duzten sie sich. Die distanzierte Höflichkeit, mit der sie sich anfänglich
morgens am Ahrufer begegnet waren, um gemeinsam Qi Gong zu machen, war einer zunehmenden
Lockerheit und Freundschaftlichkeit gewichen, die irgendwann zum Du geführt hatte.
Manchmal ging Bruni anschließend noch mit zu den Wangs. Mittlerweile kam es ihr
so vor, als würde sie seine Familie, insbesondere seine Schwester Mei Ling, die
inzwischen einmal täglich im ›Ahrstübchen‹ vorbeischaute, um mit ihnen einen Kaffee
zu trinken, schon ewig kennen. Bei den Wangs zu Hause gab es nur Tee, und Mei Ling
liebte Kaffee.
Bruni hatte
das Gefühl, durch die wachsende Freundschaft zu den Wangs etwas Wichtiges in ihrem
Leben dazuzugewinnen, und sie empfand es als Erweiterung ihres geistigen Horizonts.
Über Chinesen und ihre Art zu leben Bücher zu lesen war etwas anderes, als es hautnah
zu erfahren. Sie fühlte sich tatsächlich inspiriert, und speziell Wang Sans Nähe
hatte eine Wirkung auf sie, die sie erstaunte. Wenn sie zusammen am Ahrufer standen,
kontemplativ in einer Qi-Gong-Pose verharrend, hatte sie den Eindruck, das Leben
so zu spüren, wie es eigentlich sein sollte. In diesen Momenten verschwand alles
andere aus ihrem Bewusstsein, und sie fühlte sich erfüllt von tiefem Glück. Als
gäbe es keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr, und in der Gegenwart nicht eine
einzige Frage. In Köln hatte sich die Frage nach dem Sinn des Daseins immer wieder
in ihr Bewusstsein gedrängt, sie regelrecht gequält. Aber was machte schon den Sinn
des Lebens aus? Und was bedeutete Glück? Frauenglück? Glück war ein Reiz
von 0,3 Millivolt, das hatte sie irgendwo einmal gelesen, und dies war alles, was
sie im Grunde genommen noch vor wenigen Wochen vom Leben erwartet hatte: Hin und
wieder ein paar Reize, die dem Alltag Abwechslung verliehen, und wenn sie einmal
stärker als 0,3 Millivolt waren, umso besser.
»Wir können
natürlich nicht zaubern«, unterbrach Wang San ihre Gedanken und sagte augenzwinkernd:
»Aber es war wirklich nicht schwierig. Der Tempel besteht im Grunde genommen aus
Fertigbauteilen.«
»Wie bitte?
Man kann doch buddhistische Tempel nicht als Fertighaus kaufen.« Bruni riss ungläubig
die Augen auf.
Wang San
musste lachen. »Natürlich nicht, aber wir haben den Bau exakt geplant und die einzelnen
Holzteile bei einem Schreiner in Hönningen anfertigen lassen. Sie hierher zu transportieren
und ineinander zu stecken war überhaupt kein Problem.«
»Und das
Dach?«
»Hat uns
eine Dachdeckermeisterin aus einem Nachbarort, die mit ihren Kindern regelmäßig
bei uns Frühlingsrollen isst, angefertigt. Das meiste ist aus Pappe, nur an den
Rändern gibt es ein paar Zierziegel.«
»Pappe?«
Bruni glaubte es nicht.
»Dachpappe.
Wasserfest, wetterbeständig. Ging alles ganz fix. Der Buddha auf dem Altar stammt
übrigens von einem Asia-Export-Unternehmen aus Köln.«
Das Grinsen
schien überhaupt nicht mehr aus seinem Gesicht verschwinden zu wollen, offensichtlich
war Wang San sehr stolz auf das Werk, das die Familie gemeinsam geschaffen hatte.
»Ihr wisst,
dass ihr euch mit dem Bau des Tempels großen Ärger einhandelt? Angeblich habt ihr
keine Baugenehmigung.« Sie runzelte die Augenbrauen.
Wang San
nickte. »Das stimmt, und natürlich ist uns klar, dass wir Ärger bekommen. Aber nachdem
die Schikanen immer größer wurden, mussten wir einfach etwas unternehmen, etwas,
womit niemand gerechnet hat und das wirken sollte wie ein Paukenschlag.«
Bruni sah
ihn skeptisch an.
»Wir haben
hin und her überlegt, doch der Bau des Tempels bot sich an. Wir haben uns von der
Diskussion um den Minarettbau in der Schweiz inspirieren lassen. Denke nur an die
Volksabstimmung dort. Wir wollen es jetzt einfach wissen. Hier, in Deutschland,
und zwar nicht am Beispiel eines moslemischen Minaretts, sondern eines buddhistischen
Tempels an der Ahr.«
»Hm.« Bruni
war sich immer noch nicht hundertprozentig darüber im
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