Mit 50 hat man noch Träume
und von ihm wusste
sie auch, dass er zur Gewalttätigkeit neigte.
Die anderen
schwiegen. Schließlich sagte Bea, die wie gestern auch schon, noch im Schlafanzug
am Tisch saß: »Oder irgendwelche Jugendlichen? Es gibt hier einige, die ziemlich
schräg drauf sind.«
Caro schenkte
frischen Kaffee ein und setzte sich wieder zu den anderen an den Tisch. »Wer weiß«,
erwiderte sie matt.
»Die Frage
ist doch, ob der Graffitischmierer und der Molotow-Cocktail-Werfer ein und dieselbe
Person sind. Vielleicht waren es aber auch mehrere, oder gleich eine ganze Gruppe«,
überlegte Bruni. Unruhig rutschte sie auf der Bank hin und her.
»Hauptsache,
demnächst brennt nicht auch noch das ›Ahrstübchen‹«, stöhnte Ulrike. Der Gedanke
machte ihr Angst.
Die Freundinnen
sahen sich mit blassen Gesichtern an.
»Nein«,
verwarf Bea die Überlegung. »Das traue ich ihnen nicht zu. Ich glaube auch nicht,
dass die jemanden aus der Familie Wang verletzen wollten. Dann wäre der Molotow-Cocktail
in ihrem Haus gelandet. Nein, der Anschlag galt nur dem Tempel. Eindeutig.«
»Hoffentlich
hast du recht«, erwiderte Caro und nahm vorsichtig einen Schluck von dem frischen
Kaffee.
Ja, hoffentlich,
dachte Bea. Ihr geisterten die Firmenanteile von Best Promotion wieder durch
den Sinn, aber sie verscheuchte sie wie lästige Fliegen, die nicht aufhören wollten,
von verwesendem Fleisch zu kosten.
Sie seufzte
leise. Gehen kann man immer, dachte sie.
45
Einen Tag später saßen dort, wo
ehemals der Tempel gestanden hatte, an die 100 Menschen aller Altersklassen. Manche
hatten Klappstühle mitgebracht, andere campierten auf Decken. Auf einem Tisch standen
brennende Kerzen, daneben lagen Unterschriftenlisten. Transparente wurden hochgehalten,
die forderten: › Wir wollen einen neuen Tempel!‹ u nd › Solidarität mit den
Chinesen!‹
Die Buddhastatue
war mit Blumen geschmückt.
Ben Stur
verteilte Flugblätter, und Bruni und Caro sprachen jeden an, der vorbeikam, und
drückten ihm einen Stift in die Hand.
Christine
Schäfer und Marianne Hohenstein schenkten Wasser, Saft und warme Getränke aus, und
Christine Schäfer freute sich darüber, dass auch die erste Vorsitzende des Landfrauenvereins
die Mahnwache, die Ben Stur und der Verein Gegen Rechts organisiert hatten,
aktiv unterstützte.
»Meine Familie
und ich, wir sind sehr gerührt über das Verhalten der Menschen hier«, versicherte
Wang San mit einer ausholenden Armbewegung zu einem Journalisten aus Ahrweiler,
der für die regionale Zeitung ein Interview mit ihm führte. »Wir fühlen uns geehrt
und sind glücklich darüber, so viel Solidarität zu erfahren. Jetzt hoffen wir, dass
der Brandstifter bald gefunden und das Thema Tempelbau noch einmal ganz neu diskutiert
wird.«
»Gegen den
Abriss haben Sie Widerspruch eingelegt?«, fragte der Journalist, ein junger Mann
von vielleicht 30 Jahren, und zückte seinen Stift.
Wang San
nickte. »Wir erwarten den Bescheid der Kreisverwaltung in eineinhalb Wochen, vielleicht
helfen ja die gesammelten Unterschriften etwas. Sie werden in den nächsten Tagen
eingereicht.« Er holte Luft. »Aber so sehr wir auch hoffen, dass wir einen neuen
Tempel bauen können, so sehr wünschen wir uns jetzt, dass der Brandstifter gefunden
wird. Das ist erst einmal das Wichtigste.«
»Die Polizei
ermittelt, also ist es nur eine Frage der Zeit, und man weiß, wer es war. Wie groß
ist Ihre Angst, dass so etwas wieder passiert?« Der Journalist strich sich über
seinen spärlichen Bart.
Die Antwort
fiel Wang San nicht leicht. Er dachte daran, dass seine Eltern das Haus seit dem
Anschlag nicht mehr verlassen hatten. Der Schock saß tief. Auch jetzt hielten sie
sich drinnen auf, außer der Familie wollten sie niemanden sehen, geschweige denn
mit jemandem sprechen. Sein Vater widmete sich tagsüber fast ausschließlich der
Kalligrafie, und abends las er. Seine Mutter saß stundenlang schweigend am Fenster,
und hin und wieder schrieb sie einen Brief.
Schließlich
sagte er: »Wir haben Angst vor einer Wiederholung, natürlich, aber wir wollen uns
auch nicht zu Sklaven unserer Furcht machen.«
Der Blick
des Journalisten war teilnahmsvoll. »Überlegt Ihre Familie, aus Altenahr wegzuziehen?«
»Wir haben es überlegt, ja. Aber wir haben uns entschieden, zu bleiben, auch wenn die Umstände
äußerst schwierig sind.« Seine Familie hatte inzwischen das Gefühl, in einem beängstigend
fremden Land zu leben, einem Land, von dem sie geglaubt hatten, dass es ihnen
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