Mit 50 hat man noch Träume
wurde von Abscheu geschüttelt, die Schaulust
und Schadenfreude der Anwohner waren ekelhaft, und plötzlich verlor er die Beherrschung.
»Habt ihr
nun, was ihr wolltet?«, schrie er außer sich und rannte auf die Straße. Er ballte
die Fäuste und schüttelte sie drohend. »Seid ihr jetzt endlich zufrieden?« Er tobte
und schrie, und erst, als er merkte, dass Mei Ling hinter ihm stand, dass sie begütigend
auf ihn einsprach, ebbte seine Wut langsam ab.
»Wir finden
heraus, wie das passieren konnte«, flüsterte sie ihm zu. »Beruhige dich.«
Mit wildem
Blick sah er sie an. Dann war es, als würde ein Schalter umgelegt und er wurde ruhiger,
seine Augen leer. Mei Ling legte eine Hand auf seinen Arm, fasste ihn mit der anderen
unter, und gemeinsam gingen sie langsam zum Haus zurück.
Die meisten
Fenster waren inzwischen geschlossen worden. Der Großteil der Leute hatte sich in
die Häuser zurückgezogen, und während Wang San den warmen Druck ihrer Hand auf seinem
Arm spürte, dachte er voll Bitterkeit: Sie haben ihr Schauspiel gehabt.
43
Das Orakel hatte sich erfüllt. Mei
Ling steckte die Hände tief in die Hosentaschen und betrachtete die Stelle, an der
der Tempel gestanden hatte. Es roch noch immer verbrannt, auch wenn die Gebäudereste
inzwischen abtransportiert worden waren. Einzig der Fischteich und die Steine ihres
Onkels zeugten noch von der kleinen Tempelanlage. Die Buddhastatue, die erstaunlicherweise
unversehrt geblieben war, hatten sie von Ruß und Dreck befreit, und wie zum Trotz
lächelte sie ihnen nun in mattem, goldenen Glanz von einem Brett, das sie auf zwei
Holzböcke gesetzt hatten, entgegen.
Kein Unheil
ist so groß, dass es nicht noch größer werden könnte. Das wirst du bald erfahren. So hatte die Prophezeiung gelautet, als sie für sich und Bea das Orakel
geworfen hatte. Mei Ling fragte sich, ob sie die Gefahr hätte erkennen müssen, ob
ihr Gefühl sie hätte aufmerksamer sein lassen und warnen müssen.
»Nein, ich
bleibe nicht«, versetzte Wang Ai mit entschlossener Stimme in ihre Gedanken hinein
und fuhr sich erregt durch ihr schwarzes, kurzes Haar. Ihr rundes Gesicht wirkte
heute seltsamerweise eckig. »Was zu viel ist, ist zu viel. Das Graffiti war schon
schlimm genug, und nun auch noch das. Ein Anschlag! Es ist widerlich.«
Mei Ling
sah die Cousine an. Sie konnte verstehen, dass sie unter diesen Voraussetzungen
kein Interesse mehr daran hatte, in Deutschland zu studieren, geschweige denn für
den Verein ›Eintracht Neuenahr‹ zu spielen. Sie zerbrach sich den Kopf auf der Suche
nach einer Antwort auf die Frage, wie es so weit hatte kommen können. Obwohl ihre
Familie die Gemeinde mit dem Tempelbau provoziert hatte, war die Reaktion darauf
unfassbar.
»Es sind
nicht alle hier so«, wandte sie nachdenklich ein. »Es gibt auch sehr viele nette
Menschen im Ort. Christine Schäfer zum Beispiel. Schau …« Sie wies mit dem Kopf
Richtung Trockenblumengesteck, das die Wangs auf die Theke gestellt hatten. »Und
Ben Stur, die Frau aus dem Lebensmittelladen, die Blumenverkäuferin, die Leute von
der Winzergenossenschaft, und …« Sie holte kurz Luft und unterbrach sich selbst,
indem sie sagte: »Die Polizei wird die Verantwortlichen sicher bald finden. Der
oder die Täter waren offenbar blöd genug, einen kleinen Rucksack zurückzulassen,
der vom Feuer weitgehend unversehrt blieb.«
»Meinst
du, das wird etwas nützen?« Wang Ais Stimme klang schriller als gewöhnlich, und
Mei Ling erkannte in der Dissonanz der Töne den Beginn einer Hysterie. Sie presste
die Lippen aufeinander. Seit dem Brand war nichts mehr wie vorher. Jedes einzelne
Familienmitglied schien eine Wesensveränderung durchzumachen, und niemand konnte
mehr sicher sein, wohin sie einen führte. Momentan hatte Mei Ling nur einen einzigen
Wunsch: Sie wollte sich dem Fluchtinstinkt, der sie lähmte, widersetzen und den
Leuten im Ort die Stirn bieten. Vor allem aber wollte sie verstehen, wie es zu dieser
Eskalation hatte kommen können.
»Es würde
mich nicht wundern, wenn der Schuldige nie gefunden wird. Warum musstet ihr diesen
Tempel auch nur bauen? Dazu noch ohne Genehmigung!« Wang Ai sah Mei Ling außer sich
vor Wut an, und sie erschrak über die Heftigkeit der eigenen Gefühle. Als sie jedoch
nur Ratlosigkeit und auch Traurigkeit in den Augen ihrer Cousine sah, spürte sie,
wie ihr Zorn an Schärfe verlor, und etwas ging ihr durch den Kopf, das alles, was
sie bislang gedacht und gesagt hatte, schlagartig
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