Mit 50 hat man noch Träume
Wahrscheinlichkeit,
dass er noch jemandem begegnen würde, war verschwindend gering. Um diese Zeit, es
war bereits 23 Uhr, lagen die Leute längst in den Betten.
Ben gestand
sich ein, dass er jetzt gern mit Caro gesprochen hätte. Sie war der einzige Mensch,
von dem er sich vorstellen konnte, dass er seine Gefühle verstand. Sie war die Einzige,
der er seine Gedanken anvertrauen könnte. Sie kamen ihm vor wie ein furchtbarer
Verrat, unter dem er bereits litt, ohne dass er auch nur ausgesprochen worden wäre.
Als er am
›Ahrstübchen‹ vorbeikam, musterte er die Fenster, aber es brannte kein Licht, und
auch bei den Wangs war alles dunkel. Enttäuscht ging er weiter.
In den Taschen
seines Blousons suchte er nach einem Tempo, aber er fand nur die Minitaschenlampe,
die er immer bei sich trug, und so wischte er sich rasch mit der Hand über das nasse
Gesicht. Gleich würde er sich ein paar Räucherstäbchen anzünden, er wusste auch
nicht genau warum, aber der Duft würde ihn entspannen. Er hatte sich die Stäbchen
bereits vor Tagen besorgt, als der Tempel noch stand. Außerdem war der Platz von
einer Aura umgeben, die ihn friedlich stimmte und beruhigend auf ihn wirkte.
Leise betrat
er den zur Straße hin offenen Hof der Wangs, und schon erkannte er die Buddhastatue,
die vor ihm auftauchte. Er knipste die Taschenlampe an, um besser sehen zu können,
schaltete sie aber sofort wieder aus. Wie angewurzelt blieb er stehen, denn er hörte
Stimmen. Sie kamen ihm bekannt vor, aber so sehr er sich auch bemühte, exakt einordnen
konnte er sie nicht. Plötzlich vernahm er ein Geräusch, und zu seinem Entsetzen
kippte ihm die schwere Buddhastatue entgegen. Er konnte sie gerade noch auffangen.
»Sagt mal,
habt ihr sie noch alle?«, schrie er die zwei Gestalten an, deren Umrisse hinter
der Statue sichtbar wurden. Er spürte, wie sein Blut mit hohem Druck durch die Adern
an seiner Schläfe raste. »Was soll das?« Mit Mühe hielt er die Figur in Händen,
darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann stellte er sie vorsichtig
auf dem Boden ab und rannte den Jungen hinterher, die schon fast aus dem Hof herauswaren.
Es war zwecklos, ihr Vorsprung war zu groß und sie waren schneller als er. Ben erkannte,
dass er keine Chance hatte, sie einzuholen. Keuchend blieb er stehen, zwang sich,
tief durchzuatmen. Er hatte die beiden erkannt.
Langsam
ließ er sich am Rand des Fischteichs nieder, und eine sanfte Welle der Erleichterung
durchflutete ihn. Jede Befürchtung war zerstreut, es waren andere gewesen. Sein
Vater hatte mit dem Anschlag nichts zu tun.
52
Der Gemeinderat hatte seinem Vorschlag
zugestimmt, und so stand Hubertus Hohenstein nun mit einem Blumenstrauß in der Hand
vor dem Chinarestaurant. Seit zwei Tagen hatten die Wangs ihren Betrieb wieder geöffnet.
Er war zum
ersten Mal hier, und nachdem er eingetreten war, sah er sich neugierig um. Noch
war kein Tisch besetzt, sie waren allein. Der Fotograf, den er mitgebracht hatte,
schoss die ersten Fotos und der Journalist, der sie begleitete, schaltete das Aufnahmegerät
ein. An den Wänden hingen Bilder von chinesischen Landschaften, auf einem war eine
Frau mit schwarzen Haaren, die zu einem Knoten zusammengebunden waren, zu sehen.
Sie hielt einen Blütenzweig in Händen und betrachtete mit verklärtem Blick einen
Sonnenaufgang über den Gipfeln eines Berges.
»Das ist
der Huang Shan, einer der schönsten Berge Chinas«, hörten sie eine brüchige Stimme
sagen.
Lao Wang,
der gerade aus der Küche gekommen war, lächelte ihnen freundlich zu. Hinter ihm
erkannte der Bürgermeister seine Frau und seinen Sohn Wang San. »Wenigstens einmal
im Leben muss man dort gewesen sein«, erklärte der alte Chinese und fragte freundlich:
»Was führt Sie zu uns?«
»Ich habe
Neuigkeiten«, antwortete Hubertus Hohenstein, der näher getreten war, und überreichte
Zhang Liu den Strauß. »Gute Neuigkeiten.«
Der Fotograf
drückte auf den Auslöser. Behände bewegte er sich im Raum.
»Wir dürfen
doch?«, fragte der Journalist und deutete auf das Gerät ebenso wie auf den Fotografen.
Lao Wang
nickte irritiert.
Dass der
Bürgermeister den Chinesen mit seinen Blumen keine Freude bereitete, ahnte er nicht.
Nach altem Brauch verschenkten sie, zumindest, wenn sie so betagt waren wie Lao
Wang und seine Frau, keine Schnittblumen, denn das war eine barbarische, westliche
Sitte. Auch wenn die Blüten noch prachtvoll aussahen, waren sie doch bereits tot,
ermordet von unwissenden
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