Mit 50 hat man noch Träume
die Nerven. Er dachte einen Augenblick nach, und ohne dass
es ihm bewusst war, kratzte er mit entrücktem Gesichtsausdruck an einem Mückenstich
am Ellenbogen herum. Ihm fielen die Gesichter von zwei Männern ein, die im Rechtsausschuss
der Kreisverwaltung saßen und die er einigermaßen gut kannte. Sie gingen zur Jagd
wie er, hin und wieder traf man sich im selben Revier, und anschließend aß und trank
man noch etwas in einer Gastwirtschaft zusammen. Die beiden könnte er in jedem Fall
ansprechen.
»Der Tempel
würde Altenahr nur gut tun, nach allem, was vorgefallen ist«, unterbrach Johannes
Frier seine Gedanken. »Er wäre öffentliches Symbol der Wiedergutmachung und Akzeptanz
zugleich«, sinnierte er.
»Mit Sicherheit
wäre er auch eine Touristenattraktion«, ergänzte Dieter Schmitz. Sie waren alle
zusammen zur Schule gegangen, das war zwar lange her, aber dennoch meinte er immer
noch ein unsichtbares Band zu spüren, das zwischen ihnen schwang. Hubertus und er
begegneten sich regelmäßig im örtlichen Vereinsleben, und mit Johannes war er seit
der Schulzeit befreundet, auch wenn sie sich zwischendurch, als Johannes in Köln
lebte, etwas aus den Augen verloren hatten. Seit Jo aber wieder in der Nähe wohnte,
gingen sie beieinander ein und aus wie in früheren Zeiten, und jetzt hatten sie
sich zusammengetan im Kampf gegen die rechten Tendenzen in der Gemeinde, in der
sie geboren waren. Dieter Schmitz strich sich energisch über sein Kinn, das sich
genauso rau und trocken anfühlte wie die Haare auf seinem Kopf.
Er hatte
Angst, dass die Frauen aus Köln ihren Pachtvertrag kündigen könnten, denn schließlich
waren nicht nur die Chinesen, sondern auch sie im Ort angefeindet worden, und dem
Bürgermeister gönnte er sein ›Ahrstübchen‹ nicht. Er hatte genug andere Lokale im
Tal gepachtet, in die er dann Geschäftsführer setzte, die er schlecht bezahlte.
Er selbst sahnte ab. Dieter Schmitz fragte sich, ob Hubertus ihm inzwischen verziehen
hatte, dass er nicht ihm den Pachtvertrag für das ›Ahrstübchen‹ gegeben hatte. Hubertus
ließ sich jedenfalls nichts anmerken.
»Als touristische
Attraktion würde der Tempel der hiesigen Gastronomie sicher guttun«, stellte Johannes
fest und blickte den Bürgermeister aufmerksam an.
»Ach, was.«
Hubertus Hohenstein machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Kassen der Chinesen
wären voll, sonst nichts, und die haben sowieso schon genug. Unsere Gastronomie
würde leer ausgehen, das sage ich euch.«
»Wenn sie
ihr Qualitätsniveau endlich einmal ein bisschen anheben würde, bestimmt nicht«,
insistierte Johannes und fügte hinzu: »Dann würde neben den vielen Senioren vermutlich
auch jüngeres Publikum hierherkommen.«
Der Bürgermeister
schwieg. Er sah auf die Uhr, gleich wäre es wieder so weit, aber das Donnern der
Reisebusse würde ihn heute, wie seit Tagen schon, nicht aus der Ruhe bringen. Erstaunt
stellte er fest, dass er das Geräusch beinahe vermisste.
»Die Wangs
haben im Augenblick übrigens einen erheblichen Verdienstausfall«, wechselte Johannes
das Thema und fragte: »Das weißt du doch?«
Der Bürgermeister
nickte.
»Ist die
Gemeinde nicht in der Pflicht, weiterzuhelfen? Bei allem, was passiert ist?«
Hubertus
Hohenstein nahm noch einen Schluck Kaffee. »Rechtlich gesehen nicht, moralisch vielleicht
…, ein bisschen …«, räumte er ein und fragte: »Und wie stellt ihr euch das vor?«
»Ganz einfach«,
antwortete Johannes Frier. »Die Gemeinde leistet einen Solidaritätsbeitrag. Die
Summe muss nicht allzu hoch sein, aber es wäre eine symbolische Geste, und die Scheckübergabe
wäre doch schon ein wunderbarer Pressetermin …«
Hubertus
Hohenstein sah seine alten Schulkameraden nachdenklich an. Er nahm noch einen Schluck
Kaffee und zu ihrer großen Überraschung sagte er: »Wisst ihr, ich habe auch schon
an so etwas gedacht.«
51
Ben hatte sich so heftig mit seinem
Vater wegen seines Engagements im Verein Gegen Rechts gestritten, dass ihm
vor Wut die Tränen gekommen waren, nun sehnte er sich nach einem Platz, wo er in
Ruhe nachdenken konnte. Türe knallend hatte er sein Elternhaus verlassen, und während
er gedankenversunken durch den Ort Richtung abgebranntem Tempel ging, war er froh
über die Dunkelheit, die Altenahr einhüllte wie ein dicht gewebtes Tuch. Der Mond
hing als beinahe runde Scheibe groß und blass am Himmel, doch seltsamerweise waren
heute nur vereinzelt Sterne zu sehen. Kein Mensch war auf der Straße, und die
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