Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Vielleicht kam es daher, dass heller Tag war und der Rasen vor dem Fenster in der prallen Frühlingssonne lag und von den parkenden Autos Lichtsplitter blitzten - vielleicht kam es von der Mittäglichkeit des Ganzen, dass es nicht so schön war wie beim ersten Mal. Jack wirkte müde. Sein Hemd war gestärkt und sah teuer aus, und Olive fühlte
sich unförmig und zerbeult in ihrer langen Jacke, die sie aus einem Paar alter Vorhänge genäht hatte. »Hat Ihre Frau geschneidert?«, fragte sie.
»Geschneidert?« Als wüsste er nicht, was das Wort bedeutete.
»Geschneidert. Kleider genäht.«
»Oh. Nein.«
Aber als sie erwähnte, dass sie und Henry ihr Haus selbst gebaut hatten, sagte er, dass er es gern sehen würde. »Gut«, sagte sie. »Fahren Sie hinter mir her.« Im Rückspiegel behielt sie das rote Auto im Blick; er parkte so ungeschickt ein, dass fast eine junge Birke dran glauben musste. Sie hörte seine Schritte hinter sich auf dem steilen Weg zum Haus hinauf. Sie stellte sich ihren dicken Rücken aus Jacks Perspektive vor und kam sich vor wie ein Wal.
»Sehr hübsch, Olive«, sagte er und zog den Kopf ein, dabei hätte er mühelos aufrecht stehen können. Sie zeigte ihm das Faulenzerzimmer, in dem man liegen und durch das Panoramafenster in den Garten hinausschauen konnte. Sie zeigte ihm die Bibliothek, die sie im Jahr vor Henrys Schlaganfall gebaut hatten, mit der gewölbten Decke und den Oberlichtern. Er sah sich die Bücher an, und sie hätte ihm am liebsten gesagt: »Lassen Sie das«, als würde er in ihrem Tagebuch blättern.
»Er ist wie ein kleines Kind«, berichtete sie Bunny. »Alles muss er anfassen. Ich schwör dir, er hat meine Holzmöwe hochgehoben, sie umgedreht und dann falsch zurückgestellt, und dann hat er die getöpferte Vase genommen, die Christopher uns irgendwann geschenkt hat, und die auch umgedreht. Nach was sucht er, nach dem Preis?«
Bunny sagte: »Ich finde, du bist ein bisschen arg streng mit ihm, Olive.«
Also erzählte sie Bunny nichts mehr von ihm. Sie erzählte ihr weder von ihrem Abendessen die Woche darauf, als er ihr beim Gutenachtsagen einen Kuss auf die Wange gegeben hatte, noch von dem Konzert in Portland, das sie zusammen besucht hatten und nach dem er sie leicht auf den Mund geküsst hatte! Nein, über so etwas sprach man nicht, das ging niemanden etwas an. Und erst recht ging es niemanden etwas an, wenn sie mit ihren vierundsiebzig Jahren nachts wachlag und sich vorstellte, sie würde in seinen Armen liegen - sich Dinge ausmalte, die sie sich seit Jahren nicht mehr ausgemalt oder getan hatte.
Gleichzeitig ließ sie in Gedanken kein gutes Haar an ihm. Er hat nur Angst vor dem Alleinsein, dachte sie, er ist schwach. Fast alle Männer waren schwach. Wahrscheinlich wollte er einfach jemanden, der für ihn kochte und hinter ihm herräumte. Nun, da war er bei ihr an der falschen Adresse. Er sprach so häufig von seiner Mutter, schilderte sie in so glühenden Farben - irgendetwas musste da faul sein. Wenn er eine Mutter suchte, sollte er sich gefälligst anderswo umschauen.
Fünf Tage lang regnete es. Dicht und peitschend - so viel zum Thema Frühling. Dieser Regen war kalt und herbstlich, und selbst Olive, die ohne ihre Flusswanderung nur ein halber Mensch war, sah keinen Sinn darin, ins Freie zu gehen. Sie war nicht der Regenschirmtyp. Sie saß einfach im Auto, draußen vor Dunkin’ Donuts, mit dem Hund auf dem Rücksitz. Grauenhafte Tage. Jack Kennison meldete sich nicht, und sie meldete sich auch nicht. Wahrscheinlich hatte er längst eine Neue, bei der er sich ausweinen konnte. Sie stellte sich vor, wie er neben einer Frau in Portland im Konzert saß, und verspürte Lust, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. Die Gedanken an den Tod kehrten zurück. Lass es schnell gehen . Sie rief Christopher in New York an. »Wie geht’s?«, fragte sie, wütend, dass er nie von selber anrief.
»Gut«, sagte er. »Und selbst?«
»Grauenhaft«, sagte sie. »Was machen Ann und die Kinder?« Christophers Frau hatte zwei Kinder mit in die Ehe gebracht, jetzt war noch seines dazugekommen. »Alle munter und auf den Beinen?«
»Fast zu munter«, sagte Christopher. »Hektisch, chaotisch.«
In dem Moment hasste sie ihn beinahe. Ihr Leben war auch einmal hektisch und chaotisch gewesen. Warte nur, dachte sie. Alle bildeten sich ein, alles zu wissen, und einen Dreck wussten sie.
»Wie war dein Rendezvous?«
»Was für ein Rendezvous?«, fragte sie.
»Mit diesem Typ, den du
Weitere Kostenlose Bücher