Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
Vom Netzwerk:
länger als üblich. Sie hat im Spätsommer einen Schrecken erlitten. Ein Erguss am Herzbeutel, der sich als blinder Alarm herausstellte. »Es hat mich verändert«, schreibt sie, »wie manche Erfahrungen das so an sich haben. Es hat meine Prioritäten zurechtgerückt, und seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht zutiefst dankbar für meine Familie war. Nichts zählt im Leben mehr als Familie und Freunde«, schreibt sie in ihrer kleinen, ordentlichen Schrift. »Und ich bin mit beidem gesegnet.«
    Die Karte ist mit »Alles Liebe« unterschrieben, zum ersten Mal.
    »Wie geht’s ihr?«, fragt Olive und dreht den Wasserhahn an der Spüle auf. Henry sieht hinaus über die Bucht, auf die kümmerlichen Fichten am Uferrand, und er denkt, wie schön, Gottes Herrlichkeit dort in der ruhigen Majestät der Küstenlinie mit ihren leise schwappenden Wellen.
    »Gut«, antwortet er. Nicht sofort, aber bald wird er zu
Olive hinübergehen und ihr die Hand auf den Arm legen. Olive, die ihren eigenen Kummer mit sich herumträgt. Denn er weiß ja schon lange - hat es begriffen, kurz nachdem Jim O’Caseys Wagen von der Straße abgekommen war und Olive wochenlang gleich nach dem Essen ins Bett ging und rau in ihr Kissen schluchzte -, dass Olive Jim O’Casey geliebt hat, vielleicht auch von ihm wiedergeliebt worden ist, obwohl Henry sie deswegen nie gefragt hat, und auch sie hat nie etwas gesagt, so wenig wie er von seinen hartnäckigen, zermürbenden Gefühlen für Denise erzählt hat, die erst an dem Tag vergingen, als sie ihm von Jerrys Antrag berichtete, und er ihr zugeraten hat.
    Er stellt die Karte aufs Fensterbrett. Er hat sich gefragt, was sie wohl empfindet, wenn sie Lieber Henry schreibt. Ob sie seitdem noch andere Henrys kennengelernt hat? Er weiß es nicht. Wie er auch nicht weiß, was aus Tony Kuzio geworden ist und ob in Unserer Lieben Frau von der Buße noch immer Kerzen für Henry Thibodeau brennen.
    Henry steht auf, und flüchtig sieht er wieder Daisy Foster vor sich, ihr Lächeln, als sie vom Tanzengehen erzählt hat. Seine Erleichterung von eben, wegen Denises Karte und weil sie zufrieden mit ihrem Leben ist, weicht plötzlich, widersinnig, einem seltsamen Gefühl des Verlusts, als wäre ihm etwas Wichtiges genommen worden. »Olive«, sagt er.
    Das einlaufende Wasser übertönt offenbar seine Stimme. Olive ist nicht mehr so groß, wie sie einmal war, und breiter im Rücken als früher. Das Wasser hört auf zu laufen. »Olive«, sagt er, und sie dreht sich um. »Du verlässt mich doch nicht irgendwann?«
    »Herrgott noch mal, Henry. Du kannst einen wirklich krank machen.« Rasch wischt sie sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.
    Er nickt. Wie könnte er ihr je gestehen - kein Mensch
könnte das -, dass er all diese Jahre, die er sich wegen Denise schuldig gefühlt hat, tief innen drin dachte, sie gehöre ihm noch? Schon die Vorstellung ist unerträglich, und im nächsten Moment wird sie verflogen sein, als absurd verworfen. Denn wer kann es aushalten, sich so zu sehen: als einen Mann, den das Glück anderer herunterzieht? Nein, so etwas wäre grotesk.
    »Daisy hat einen Freund«, sagt er. »Wir müssen sie bald mal einladen.«

Flut

    Schmale Schaumkronen tupften die Bucht, und das Wasser stieg, so dass die kleineren Steine prasselnd von der Brandung durcheinandergeworfen wurden. Stahlseile klapperten gegen die Masten der vertäuten Segelboote. Ein paar Möwen stießen kreischend auf die Fischköpfe und -schwänze und glänzenden Innereien herab, die der Junge auf dem Steg beim Makrelenausnehmen ins Wasser warf. All das sah Kevin durch die halb heruntergelassenen Autofenster. Er hatte auf der Grasfläche geparkt, nicht weit vom Segelclub. Zwei Pick-ups standen ein Stück entfernt auf dem Kies vor dem Bootsanleger.
    Wie viel Zeit verging, wusste Kevin nicht.
    Einmal öffnete sich die Fliegentür des Clubhauses ächzend und fiel wieder ins Schloss, und ein Mann in dunklen Gummistiefeln stapfte langsam vorbei und warf eine schwere Taurolle auf die Ladefläche seines Pick-ups. Falls der Mann Kevin bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken, nicht einmal, als er mit seinem Wagen zurückstieß und den Kopf in Kevins Richtung drehte. Dass sie sich kannten, war nicht anzunehmen. Kevin war kein einziges Mal zurückgekommen, seit er als Kind mit seinem Vater und seinem Bruder fortgezogen war; dreizehn war er damals gewesen. Letztlich war er so fremd hier wie ein x-beliebiger Tourist, aber als er über die

Weitere Kostenlose Bücher