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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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vorstellen konnte, dass sie irgendetwas spürte.

Auftrieb

    Vor drei Stunden, als die Sonne noch mit voller Kraft durch die Bäume in den Garten schien, hat der ortsansässige Fußspezialist, ein nicht mehr ganz junger Mann namens Christopher Kitteridge, eine Frau von auswärts geheiratet, die Suzanne heißt. Für beide ist es das erste Mal, und die Hochzeit ist eine eher kleine, geschmackvolle Angelegenheit mit einer Flötistin und Körben voll gelben Beetrosen drinnen und draußen. Noch will die zivilisierte Feierlaune nicht erlahmen, und Olive Kitteridge, die neben dem Gartentisch steht, findet es langsam höchste Zeit, dass alle gehen.
    Den ganzen Nachmittag schon kämpft Olive gegen das Gefühl an, sich unter Wasser zu bewegen - ein panisches, trostloses Gefühl, denn aus irgendeinem Grund hat sie nie schwimmen gelernt. Jetzt denkt sie: Mir reicht’s, pfropft ihre Papierserviette zwischen die Latten des Gartentisches und geht, den Blick gesenkt, um nicht gleich in die nächste stumpfsinnige Konversation verstrickt zu werden, ums Haus herum und durch eine Terrassentür, die direkt ins Schlafzimmer ihres Sohnes führt. Hier bringt die Sonne die Kieferndielen zum Leuchten, und sie geht zu Christophers (und Suzannes) breitem Bett und legt sich hin.
    Olives Kleid - das für den Tag nicht ohne Bedeutung ist, schließlich ist sie die Mutter des Bräutigams - ist aus hauchdünnem grünem Musselin mit einem Muster aus großen, rosaroten
Geranien, und sie muss sich sorgsam zurechtbetten, damit sie es nicht verknittert, und auch, um züchtig bedeckt zu sein, falls jemand ins Zimmer kommt. Olive ist eine dicke Frau. Dessen ist sie sich bewusst, aber sie war nicht immer dick, und ganz hat sie sich noch nicht damit abgefunden. Groß war sie natürlich schon immer, und klobig hat sie sich auch oft gefühlt, aber das mit dem Dicksein kam erst mit dem Alter; erst da begannen sich ihre Knöchel aufzublähen, in ihrem Nacken bildeten sich diese Wülste, und ihre Handgelenke und Hände schienen plötzlich so breit wie bei einem Mann. Es macht Olive etwas aus - wie auch nicht; insgeheim macht es ihr sogar manchmal sehr viel aus. Aber so kurz vor Torschluss ist sie nicht bereit, auf die Tröstungen des Essens zu verzichten, und das heißt, dass sie im Moment vermutlich aussieht wie eine fette, schläfrige Robbe in einem Mullverband. Aber das Kleid ist ihr wirklich gelungen, sagt sie sich, während sie sich zurücklehnt und die Augen schließt. Viel hübscher als das dunkle, freudlose Zeug, in dem Familie Bernstein aufmarschiert ist, als wären sie zu einem Begräbnis eingeladen statt zu einer Hochzeit, an diesem strahlenden Junitag.
    Die Tür zum Gang ist nur angelehnt, und Geräusche klingen aus den vorderen Zimmern herüber, wo ebenfalls gefeiert wird: Hohe Absätze klacken über den Flur, die Badezimmertür wird aggressiv zugedrückt. (Also bitte, denkt Olive, geht das nicht auch etwas sanfter?) Ein Stuhl im Wohnzimmer scharrt über den Boden, und in das gedämpfte Lachen und Reden mengt sich Kaffeeduft und der gleiche schwere, süße Geruch nach Gebackenem, wie er in den Straßen um Nissens Brotfabrik hing, bevor sie zugemacht hat. Verschiedene Parfüms sind auch dabei, darunter das, bei dem Olive schon den ganzen Tag an Insektenspray denken muss, und alle ziehen sie den Flur entlang bis zu ihr ins Schlafzimmer.

    Und Zigarettenrauch! Olive öffnet die Augen. Jemand steht hinten im Garten und raucht. Durch das offene Fenster hört sie ein Husten, das Klicken eines Feuerzeugs. Kein Winkel ist hier mehr sicher. Vor ihrem inneren Auge stampfen schwere Schuhe durchs Gladiolenbeet, und als in der Toilette die Spülung rauscht, sieht sie einen Moment lang das ganze Haus einstürzen, sieht Rohre platzen, Dielenbretter splittern, Wände in sich zusammensacken. Sie stemmt sich ein Stück hoch, zieht ihr Kleid neu zurecht und schiebt noch ein Kissen gegen das Kopfbrett.
    Sie hat dieses Haus selbst gebaut, zum Teil jedenfalls. Sie und Henry haben vor Jahren sämtliche Pläne gezeichnet und dann eng mit der Baufirma zusammengearbeitet, damit auf Christopher, wenn er mit der Ausbildung zum Podologen fertig war, ein ordentliches Zuhause wartete. Zu einem Haus, das man selbst gebaut hat, hat man zwangsläufig eine andere Beziehung. Olive weiß das, sie war schon immer jemand, der Dinge selber macht: Kleider nähen, Gärten anlegen, Häuser bauen. (Die gelben Rosen in den Körben hat sie heute Morgen eigenhändig arrangiert, noch vor

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