Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
weit, weit weg. Umschlossen von der Musik, verstand sie viele Dinge. Sie verstand, dass Simon ein enttäuschter Mann war, wenn er ihr jetzt, in dem Alter, eröffnen musste, dass er sie seit Jahren bemitleidete. Sie verstand, dass er, wenn er nun die Küste entlang heimfuhr nach Boston, heim zu der Frau, mit der er drei Kinder großgezogen hatte, dass er dann eine gewisse Befriedigung empfand, sie heute Abend so erlebt zu haben, und sie verstand, dass viele Menschen aus solchen Dingen Trost
schöpften, so wie Malcolm sich besser fühlte, wenn er Walter Dalton eine armselige Schwuchtel nannte, aber es war eine sehr dünne Milch, diese Form der Labsal; es änderte nichts an der Tatsache, dass jemand Konzertpianist hatte werden wollen und stattdessen Anwalt für Eigentumsrecht geworden war, dass jemand eine Frau geheiratet hatte und dreißig Jahre mit ihr verheiratet geblieben war, obwohl er sie im Bett völlig kaltließ.
Die Lounge war jetzt beinahe leer. Und wärmer, weil nicht mehr ständig die Tür ging. Sie spielte »We Shall Overcome«, sie spielte es zweimal, langsam, getragen, und sah hinüber zum Tresen, wo Walter ihr zulächelte. Er stieß eine Faust in die Luft.
»Soll ich dich mitnehmen, Angie?«, fragte Joe, als sie den Flügel zuklappte und ihren Mantel und die Handtasche holte.
»Nein danke, Joe«, sagte sie, während Walter ihr in ihren weißen Kunstpelz half. »Das Laufen wird mir guttun.«
Ihr kleines blaues Handtäschchen an sich gedrückt, tippelte sie zwischen den Schneehaufen am Bordstein hindurch und dann über den Parkplatz bei der Post. Die grünen Leuchtziffern vor der Bank zeigten minus drei Grad an, aber ihr war nicht kalt. Allerdings war ihre Wimperntusche gefroren. Ihre Mutter hatte ihr immer gepredigt, nur ja ihre Wimpern nicht anzufassen, wenn es so kalt war, damit sie nicht abbrachen.
Als sie in die Wood Street bog, deren Straßenlaternen blass aus der kalten Dunkelheit leuchteten, sagte sie laut: »Mann!«, denn sie fand so einiges äußerst verwunderlich. Das passierte ihr oft, wenn sie so tief in die Musik eingetaucht gewesen war wie heute Abend.
Sie stolperte ein bisschen in ihren hochhackigen Stiefeln, stützte sich am Verandageländer ab.
»Fotze.«
Sie hatte nicht gesehen, dass er vor dem Haus stand, der schräge Schatten des Vordachs hatte ihn verdeckt.
»Angie, du Fotze.« Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Malcolm«, sagte sie gedämpft. »Also bitte.«
»Bei mir daheim anzurufen. Verdammt, wofür hältst du dich eigentlich?«
»Tja«, sagte sie. Sie presste die Lippen zusammen, drückte den Finger an den Mund. »Tja«, sagte sie noch einmal, »gute Frage.« Es war nicht ihr Stil, bei ihm daheim anzurufen, aber noch weniger war es ihr Stil, ihn daran zu erinnern, dass es in zweiundzwanzig Jahren nicht einmal vorgekommen war.
»Du hast sie echt nicht alle«, sagte er. »Verdammte Säuferin!« Er ließ sie stehen. Sie konnte seinen Pick-up sehen, der eine Straßenecke weiter wartete. »Ruf mich im Büro an, wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast«, befahl er ihr über die Schulter. Und dann, leiser: »Und versuch so eine Scheiße nicht noch mal.«
So betrunken sie war, wusste sie doch, dass sie ihn nicht anrufen würde, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen hatte. Sie schloss die Haustür auf und setzte sich auf die Treppe. Angela O’Meara.
Ein Gesicht wie ein Engel. Eine Säuferin. Mit einer Mutter, die sich an Männer verkaufte. Nie geheiratet, Angela?
Aber wie sie so auf der Treppe saß, sagte sie sich, dass sie nicht mehr und nicht weniger armselig war als irgendeiner von ihnen, Malcolms Frau inbegriffen. Und manche waren ja auch nett: Walter, Joe, Henry Kitteridge. O doch, es gab nette Menschen auf der Welt. Morgen wollte sie früher zur Arbeit gehen und Joe von ihrer Mutter und den Blutergüssen erzählen. »Stell dir das vor«, wollte sie zu Joe sagen. »Eine gelähmte alte Frau so zu zwicken.«
Angie, die mittlerweile mit dem Kopf an der Wand lehnte und über den Stoff ihres schwarzen Rocks strich, immer
wieder, hatte das Gefühl, zu spät etwas Wichtiges begriffen zu haben, und so war es wohl immer im Leben, immer sah man erst klar, wenn es zu spät war. Morgen würde sie sich in die Kirche setzen und Klavier spielen, und sie würde aufhören, an die Blutergüsse auf dem Oberarm ihrer Mutter zu denken, diesem mageren Arm mit seiner weichen, schlaffen Haut, die so lose am Knochen hing, dass man sich, wenn man sie zwischen den Fingern hielt, kaum
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