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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Kinn.«
    Olive wendet den Blick wieder zur Decke hoch und empfängt diese Worte ohne einen begleitenden Flügelschlag in ihrer Brust. Unglaublich, wie garstig die heutigen Kinder sind. Aber das mit dem Oberlicht über dem Bett war eine gute Idee. Christopher hat ihr erzählt, dass er im Winter manchmal im Bett liegt und dem Schnee beim Fallen zuschaut. So war er schon immer - anders als die anderen, hochsensibel. Daher auch sein Talent für die Ölmalerei, was man bei einem Fußspezialisten ja nicht unbedingt erwartet. Er ist ein komplizierter, interessanter Mann, ihr Sohn, schon als Kind war er so sensibel, dass er, als er Heidi las, sogar ein Bild als Illustration dazu gemalt hat - Wildblumen auf einer Bergwiese.
    »Sag, was ist das da an deinem Kinn?«
    Das kleine Mädchen, sieht Olive, hat auf einem Band an seinem Kleid herumgekaut. »Krümel«, sagt Olive. »Von dem letzten kleinen Mädchen, das ich aufgefressen habe. Und jetzt mach, dass du wegkommst, bevor ich dich auch auffresse.« Sie macht Glubschaugen.
    Das Kind weicht einen Schritt zurück, ohne den Türpfosten loszulassen. »Das denkst du dir aus«, sagt es schließlich, aber es dreht sich doch um und zieht ab.
    »Wer sagt’s denn«, murmelt Olive.
    Jetzt hört sie hohe Absätze stockend den Flur entlangklappern. »Ich wollte mal eben für kleine Mädchen«, sagt eine Frauenstimme, und Olive erkennt die Stimme von Janice Bernstein, Suzannes Mutter. Henrys Stimme antwortet: »Oh, gleich hier. Gleich hier.«
    Olive wartet darauf, dass Henry den Kopf zur Tür hereinstreckt, und da ist er auch schon. Sein flächiges Gesicht strahlt vor Umgänglichkeit, wie immer, wenn er mit vielen Menschen zusammen ist. »Alles in Ordnung, Ollie?«

    »Pscht. Nicht so laut. Muss doch nicht jeder wissen, dass ich hier bin.«
    Er kommt weiter ins Zimmer. »Alles in Ordnung?«, flüstert er.
    »Ich würde gern demnächst los. Wobei du ja wahrscheinlich bis zum bitteren Ende bleiben willst. Wie ich das hasse, wenn erwachsene Frauen ›für kleine Mädchen‹ sagen. Ist sie betrunken?«
    »Nein, ich glaube nicht, Ollie.«
    »Die rauchen da draußen.« Olive macht eine Kopfbewegung in Richtung Fenster. »Ich hoffe bloß, sie stecken nicht das Haus in Brand.«
    »Das werden sie schon nicht.« Eine Pause, dann sagt Henry: »Ist doch alles gut gelaufen, oder?«
    »Doch, sicher. Fang vielleicht langsam an, dich zu verabschieden, damit wir hier wegkommen.«
    »Er hat eine nette Frau geheiratet.« Henry steht zögernd am Fußende des Bettes.
    »Ja, das stimmt wohl.« Sie schweigen einen Moment; es ist und bleibt ein Schock. Ihr Sohn, ihr einziges Kind, verheiratet. Er ist achtunddreißig; sie hatten sich doch ziemlich an ihn gewöhnt.
    Eine Weile dachten sie, er würde seine Sprechstundenhilfe heiraten, aber die Sache ging nicht lang. Dann sah es aus, als würde er eine Lehrerin heiraten, die auf Turtleback Island lebte, aber sehr lange ging auch das nicht. Und jetzt ist es passiert, fast über Nacht: Suzanne Bernstein, Dr. med., Dr. rer. nat., kam zu einer Konferenz hierher und stöckelte eine Woche in neuen Schuhen durch die Stadt. Ein eingewachsener Zehennagel entzündete sich, und an ihrer Fußsohle bildete sich eine Blase, so groß wie eine Murmel; Suzanne erzählte es immer wieder von vorn. »Ich hab in den Gelben Seiten geschaut, und bis ich dann endlich bei ihm in der Praxis saß,
waren meine Füße im Eimer . Er musste einen Zehennagel aufbohren. Was für eine Art, sich kennenzulernen!«
    Olive fand die Art idiotisch. Warum hatte sich die Frau mit all ihrem vielen Geld nicht einfach ein Paar Schuhe gekauft, die ihr passten?
    Aber so haben die zwei sich kennengelernt. Und der Rest, wie Suzanne nicht müde wird zu verkünden, ist Geschichte. Sofern man sechs Wochen Geschichte nennen kann. Denn auch das kam überraschend - diese Blitzheirat. »Wozu warten?«, hat Suzanne Olive gefragt, als sie und Christopher vorbeikamen, um den Ring vorzuführen. Und Olive hat freundlich gesagt: »Ja, wirklich, wozu.«
    »Trotzdem, Henry«, sagt Olive jetzt. »Ausgerechnet Gastroenterologie! Es gibt doch auch andere Fachrichtungen, ohne dieses ganze Herumgestocher. Ich meine, stell es dir vor!«
    Henry sieht sie auf seine abwesende Art an. »Ich weiß«, sagt er.
    Sonnenlicht flimmert an der Wand, und die weißen Gardinen blähen sich ein bisschen. Der Rauchgeruch kehrt zurück. Henry und Olive schweigen, den Blick auf das Fußende des Bettes gerichtet, bis Olive sagt: »Sie ist ein sehr

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