Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
positiver Mensch.«
»Sie tut Christopher gut«, sagt Henry.
Sie flüstern fast, doch bei dem Klang von Schritten im Flur drehen beide sich mit aufgekratztem, verbindlichem Gesichtsausdruck zur Tür. Aber Suzannes Mutter bleibt nicht stehen; sie marschiert schnurstracks vorbei in ihrem dunkelblauen Kostüm, am Arm eine Handtasche, die die Form eines kleinen Koffers hat.
»Geh besser wieder zu den anderen«, sagt Olive. »Ich komm mich gleich verabschieden. Lass mich nur erst ein paar Minuten ausruhen.«
»Ja, ruh dich aus, Ollie.«
»Vielleicht können wir ja noch bei Dunkin’ Donuts vorbeifahren«, sagt sie. Sie sitzen immer am selben Tisch, dem am Fenster, und die Kellnerin kennt sie; sie grüßt jedes Mal nett und lässt sie ansonsten in Ruhe.
»Wenn du möchtest«, sagt Henry, schon an der Tür.
Sie legt sich zurück in die Kissen und sieht wieder das blasse Gesicht ihres Sohnes vor sich, vorhin bei der Trauung. Auf seine vorsichtige Christopher-Art hat er voll Dankbarkeit seine Braut angeschaut, die schmal und kleinbusig neben ihm stand und zu ihm hochsah. Ihre Mutter weinte. Was für ein Anblick: Janice Bernstein, die förmlich in Tränen zerfloss. Hinterher fragte sie Olive: »Weinen Sie nie auf Hochzeiten?«
»Warum sollte ich«, hat Olive zurückgefragt.
Nein, Weinen wäre ein zu schwacher Ausdruck ihrer Empfindungen gewesen. Was sie empfunden hat, da draußen auf ihrem Klappstuhl, war Angst. Angst, ihr Herz könnte sich wieder zusammenkrampfen, stehenbleiben wie schon einmal: eine Faust, die sich ihr in den Rücken rammt. Und Angst auch angesichts dieser Braut, die zu Christopher empor lächelte, als würde sie ihn allen Ernstes kennen . Weiß sie denn, wie er damals als Erstklässler aussah, als er in Miss Lampleys Stunde Nasenbluten bekam? Sieht sie ihn noch als blasses, teigiges Kind vor sich, dessen Haut sich mit Pusteln überzog, weil es sich vor dem nächsten Diktat fürchtete? Nein, was Suzanne mit Kennen verwechselt, ist lediglich der Sex mit ihm, den sie seit ein paar Wochen kennt. Nicht dass man ihr das sagen könnte. Hätte Olive ihr erklären wollen, dass das, was sie für Kapuzinerkresse hält, in Wahrheit Petunien sind (was sie tunlichst unterlässt), würde Dr. Sue im Zweifel sagen: »Also, ich kenne Kapuzinerkresse, die haargenau so aussieht.« Trotzdem, es war unheimlich, dieser Blick von Suzanne
während der Trauung, so als wollte sie zu Christopher sagen: »Ich kenne dich - o ja, ich kenne dich wie niemand sonst auf der Welt.«
Eine Fliegentür schlägt. Jemand bittet um eine Zigarette. Wieder klickt ein Feuerzeug, dann das tiefe Murmeln von Männerstimmen. »Mensch, bin ich voll.«
Olive kann verstehen, warum sich Chris nie groß um Freunde bemüht hat. Darin ist er wie sie: allergisch gegen das Geseier der Leute. Die über einen herziehen, kaum dass man den Rücken kehrt. »Wirklich trauen kannst du keinem«, hat Olives Mutter vor Jahren zu ihr gesagt, als sie einen Korb voller Kuhfladen vor ihrer Haustür fanden. Henry geht es gegen den Strich, wenn sie so redet. Aber Henry geht ihr mindestens genauso gegen den Strich mit seiner durch nichts zu erschütternden Naivität, als wäre das Leben das, was der Versandkatalog einem vorgaukelt: eine heile Welt voller lachender Menschen.
Dennoch hat auch Olive sich Sorgen gemacht, ob Christopher nicht vielleicht einsam ist. Gerade letzten Winter hat dieses Bild sie verfolgt: ihr Sohn als alter Mann, der im Dunkeln von der Arbeit heimkommt, wenn sie und Henry einmal nicht mehr sind. Darum ist sie eigentlich froh um Suzanne. Es kam sehr plötzlich, und es ist noch gewöhnungsbedürftig, aber unterm Strich wird Dr. Sue schon die Richtige sein. Zumal das Mädchen betont nett zu ihr ist. (»Was, die Baupläne sind echt alle von dir!« Blonde Augenbrauen in schwindelnde Höhen gezogen.) Und Christopher, das lässt sich nicht leugnen, ist völlig verrückt nach ihr. Momentan ist ihr Liebesleben vermutlich sehr aufregend, und bestimmt glauben sie, das wird ewig so bleiben, wie alle Frischverheirateten. Sie glauben auch, für sie gibt es keine Einsamkeit mehr.
Dieser Gedanke veranlasst Olive auf ihrer Lagerstatt, langsam mit dem Kopf zu nicken. Sie weiß, dass Einsamkeit der
Tod sein kann - dass sie die Menschen, auf diese oder jene Weise, buchstäblich ins Grab bringt. Nach Olives heimlicher Überzeugung braucht man zum Leben, was sie bei sich »Auftrieb« nennt, Auftrieb im Großen und im Kleinen. Auftrieb im Großen, das sind Dinge
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