Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
oder auch nicht an sie gedacht, jedenfalls war er aus irgendeinem Grund nach Crosby, Maine, gefahren. Hatte er gewusst, dass sie hier spielen würde?
Aus den Augenwinkeln sah sie ihn aufstehen, und dann war er da, lehnte sich an den aufgeklappten Flügel und schaute sie an. Er war fast völlig kahl geworden.
»Hallo, Simon«, sagte sie. Sie improvisierte jetzt, ihre Finger flogen über die Tasten.
»Hallo, Angie.« Er war kein Mann mehr, nach dem man sich auf der Straße umdrehen würde. Wahrscheinlich war er das damals schon nicht, aber das war auch gar nicht so wichtig, wie die Leute immer dachten. Es war nicht wichtig, dass er damals eine hässliche braune Lederjacke gehabt hatte und sich darin wie der Größte vorgekommen war. Manche Gefühle konnte man nicht auf Kommando abstellen, ganz gleich, wie der andere sich verhielt. Man konnte nur warten. Irgendwann ging das Gefühl weg, weil jemand Neues kam. Und manchmal ging es auch nicht weg, aber es wurde immer kleiner und hing dann wie ein Lamettafädchen tief im hintersten Winkel des Gedächtnisses. Sie tauchte jetzt hinein in die Musik.
»Wie geht es dir, Simon?«, fragte sie lächelnd.
»Sehr gut, danke.« Er nickte knapp. »Ich kann nicht klagen.« Und da schlug in ihr eine kleine Warnglocke an. Seine Augen blickten nicht warm. Es waren warme Augen gewesen. »Wie ich sehe, hast du immer noch deine roten Haare.«
»Inzwischen helfe ich ein bisschen nach, offengestanden.«
Er sah sie einfach nur an; seine Jacke saß locker. Seine Kleider hatten immer locker gesessen.
»Bist du noch Anwalt, Simon? Ich habe gehört, du bist Anwalt geworden.«
Er nickte. »Die Sache ist die, Angie, ich bin gut darin. Es ist angenehm, etwas zu machen, in dem man gut ist.«
»O ja. Das stimmt. Was für ein Gebiet hast du?«
»Eigentumsrecht.« Er senkte den Blick. Aber gleich darauf reckte er das Kinn vor. »Es macht Spaß. Wie Puzzeln.«
»Ach. Das freut mich.« Sie griff mit der linken Hand über die Rechte, spielte ein paar leichtfingrige Läufe.
»Verheiratet, Angie?«
»Nein. Nein. Ich hab nicht geheiratet. Und du?« Der Ehering war ihr schon aufgefallen. Ein dicker Ring. Sie hätte nicht gedacht, dass er einen derart dicken Ring tragen würde.
»Ja. Ich habe drei Kinder. Zwei Jungen und ein Mädchen, alle schon erwachsen.« Er verlagerte sein Gewicht, immer noch am Klavier lehnend.
»Ach, wie schön, Simon. Wie schön.« Sie hatte »O Come All Ye Faithful« vergessen. Sie stimmte es an, griff mit allen zehn Fingern tief hinein in die Musik; manchmal fühlte sie sich wie eine Bildhauerin beim Spielen, wie eine Bildhauerin, die dicken, geschmeidigen Lehm formte.
Er schaute auf seine Uhr. »Wann bist du hier fertig, um neun?«
»Ja. Um neun. Aber ich muss mich gleich auf die Socken machen, fürchte ich. Tut mir echt leid.« Das Blut brannte ihr nicht mehr im Gesicht; ihre Haut fühlte sich klamm an. Sie hatte jetzt richtige Kopfschmerzen.
»Wie du willst, Angie.« Er richtete sich auf. »Ich pack’s dann mal. Nett, dich nach diesen ganzen Jahren mal wiederzusehen.«
»Ja, Simon. Das fand ich auch.«
Bettys Arm stellte auf der anderen Seite des Klaviers ein Glas Irish Coffee ab. »Von Walter«, sagte Betty, schon im Weitergehen.
Angie wandte den Kopf und ließ Walter ihr plinkerndes
kleines Zwinkern zukommen. Walter betrachtete sie verschwommenen Blicks.
Simon hatte sich schon zum Gehen gewandt. Und da waren die Kitteridges, auf ihrem Weg zum Ausgang, und Henry winkte ihr zu. Sie spielte »Good Night, Irene«.
Simon kehrte wieder um, mit zwei ruckartigen Schritten war er neben ihr und hielt sein Gesicht dicht an ihres. »Dass deine Mutter mich in Boston besucht hat, weißt du aber?«
Angies Wangen glühten plötzlich.
»Sie ist mit dem Greyhound-Bus gefahren«, sagte Simons Stimme an ihrem Ohr. »Und dann hat sie ein Taxi zu meiner Wohnung genommen. Als ich ihr aufgemacht habe, hat sie einen Drink verlangt und dann angefangen, sich auszuziehen. Hat sich ganz langsam den Knopf oben an ihrem Hals aufgeknöpft.«
Angies Mund war trocken.
»Und die ganzen Jahre seitdem hast du mir fürchterlich leidgetan, Angie.«
Sie lächelte starr geradeaus. »Gute Nacht, Simon«, sagte sie.
Einhändig trank sie den ganzen Irish Coffee aus. Und dann spielte sie alles Mögliche durcheinander. Sie wusste nicht, was sie spielte, hätte es beim besten Willen nicht sagen können, aber die Musik umschloss sie, und die Lichter am Weihnachtsbaum funkelten hell und wirkten
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