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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Sachen gesagt. Als er sie dieses erste Mal zusammen mit ihrer Mutter zum Mittagessen ausgeführt hatte, zum Beispiel: »Du siehst aus wie eine Märchenprinzessin«, hatte er gesagt, in dem Sonnenlicht, das über ihren Terrassentisch fiel.
    »Du bist die ideale Tochter«, hatte er gesagt, in dem Ruderboot draußen in der Bucht, während ihre Mutter von den Uferfelsen winkte. »Du hast ein Gesicht wie ein Engel«, hatte er gesagt, an dem Tag, an dem sie mit dem Boot auf Puckerbrush Island anlegten. Später hatte er ihr eine einzelne weiße Rose geschickt.
    Ach, was für ein Kind sie gewesen war. Sie war an einem Sommerabend mit ihren Freundinnen hierhergekommen, in
genau diese Bar, und da saß er und spielte »Fly Me to the Moon«. Es war, als strahlten Lichtfunken von ihm ab.
    Aber zapplig war Simon gewesen, zapplig und energiegeladen wie eine Marionette, an deren Fäden man reißt. Er spielte sehr kraftvoll. Aber seinem Spiel - und tief im Innern hatte sie es schon damals gewusst -, ja, seinem Spiel fehlte es an Gefühl . »Spiel ›Feelings‹«, hatten sich die Leute damals manchmal gewünscht, aber er weigerte sich. Zu sentimental, sagte er. Zu schmalzig.
    Er war aus Boston gekommen, eigentlich nur für den Sommer, aber dann war er zwei Jahre geblieben. Als er mit Angie Schluss machte, sagte er: »Es kommt mir vor, als hätte ich mit dir und deiner Mutter gleichzeitig was. Das ist mir zu unheimlich.« Später schrieb er ihr. »Du bist gestört«, schrieb er. »Du hast einen Schaden.«
    Sie konnte das Pedal nicht treten, ihr Bein unter dem schwarzen Rock zitterte zu sehr. Er war der einzige Mensch, dem sie je gestanden hatte, dass ihre Mutter von Männern Geld genommen hatte.
    Eine Lachsalve schallte vom Tresen, und Angie schaute hinüber, aber es waren nur ein paar Fischer, die mit Joe Geschichten austauschten. Walter Dalton lächelte ihr liebevoll zu und verdrehte die Augen über die Fischer.
    Zu Weihnachten hatte ihre Mutter drei blaue Pullis im Partnerlook gestrickt. Als sie einmal aus dem Zimmer ging, sagte Simon: »Gleichzeitig tragen wir die auf gar keinen Fall.« Ihre Mutter kaufte ihm einen ganzen Stapel Beethoven- Platten. Als Simon Angie verließ, schrieb ihre Mutter ihm und verlangte die Platten zurück, aber sie kamen nicht. Ihre Mutter sagte, sie beide könnten ihre blauen Pullis trotzdem tragen, und wenn ihre Mutter den blauen Pulli trug, musste Angie ihren auch anziehen. Ihre Mutter sagte eines Tages zu ihr: »Simon ist am Konservatorium abgelehnt worden, wusstest
du das? Er ist jetzt Anwalt für Eigentumsrecht in Boston. Bob Beane hat ihn da zufällig getroffen.«
    »Aha«, hatte Angie gesagt.
    Sie hatte nicht erwartet, ihn jemals wiederzusehen. Denn sie hatte gemerkt, dass er insgeheim neidisch war, als sie ihm erzählte (oh, sie hatte ihm alles erzählt, Kind, das sie noch war, in dieser Bruchbude mit ihrer Mutter!), wie sie mit fünfzehn einmal bei einer Hochzeit gespielt und dieser Mann aus Chicago sie gehört hatte. Er leitete eine Musikschule, und er hatte zwei Tage lang auf ihre Mutter eingeredet. Angie sollte auf seine Schule gehen. Sie würde ein Stipendium bekommen, Kost und Logis. Nein, hatte Angies Mutter gesagt, Angie gehört zu ihrer Mama. Doch noch jahrelang hatte sich Angie die Schule ausgemalt: ein weißes, weitläufiges Gebäude voll junger Menschen, die von morgens bis abends Klavier spielten. Sie würde von freundlichen Lehrern und Lehrerinnen unterrichtet werden; sie würde Notenlesen lernen. Alle Zimmer wären geheizt. Nirgends wären diese Geräusche zu hören, die daheim aus dem Zimmer ihrer Mutter drangen, Geräusche, gegen die sie sich nachts die Finger in die Ohren steckte und vor denen sie tags zu dem Klavier in der Kirche floh. Aber der Entschluss ihrer Mutter stand fest. Angie gehörte zu ihrer Mama.
    Wieder warf sie einen Blick zu Simon hinüber. Er saß zurückgelehnt in seinem Sessel und beobachtete sie. Von ihm wehte keine milde Luft zu ihr her, so wie von Henry Kitteridge, wenn er zur Tür hereinkam, oder wie jetzt von dem Platz am Tresen, an dem Walter saß.
    Was hoffte er wohl zu sehen? Sie stellte sich vor, wie er früher als sonst aus seinem Büro wegging, wie er im Dunkeln die Küste entlangfuhr. Vielleicht war er geschieden, vielleicht steckte er in einer Krise wie so viele Männer Ende fünfzig, die auf ihr Leben zurückblickten und sich fragten, warum
die Dinge so gelaufen waren und nicht anders. Und so hatte er - nach wie vielen Jahren? - an sie gedacht,

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