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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Sonnenaufgang.) Ihr eigenes Haus ein paar Meilen weiter haben sie und Henry auch selbst gebaut, vor vielen Jahren, und erst neulich hat sie der Zugehfrau gekündigt, weil das dumme Ding immer den Staubsauger über den Boden schleifte und ihn gegen die Wände rumpeln und die Treppen herunterpoltern ließ.
    Wenigstens weiß Christopher, was er an dem Haus hat. Die letzten Jahre hindurch haben sie sich zusammen darum gekümmert, Olive, Henry und Christopher - haben noch mehr Wald gerodet, Flieder und Rhododendren gepflanzt, Löcher für die Zaunpfosten ausgehoben. Jetzt wird Suzanne (Dr. Sue, wie Olive sie im Stillen nennt) das Ruder übernehmen, und bei ihrem finanziellen Hintergrund wird sie sicher eine Haushälterin einstellen und einen Gärtner sowieso.
(»Toll, deine Kapuzinerkresse«, hat Dr. Sue vor ein paar Wochen zu Olive gesagt und auf die Petunien gezeigt.) Aber was soll’s, denkt Olive nun. Man räumt das Feld und macht Platz für das Neue.
    Durch die geschlossenen Lider sieht Olive einen roten Lichtschein durchs Fenster hereinfallen; sie spürt die Sonne wärmend an ihren Waden und Knöcheln auf dem Bett, streicht mit der Hand über den sonnenwarmen, zarten Stoff ihres Kleides, das sich so ausgezeichnet bewährt. Wohlig denkt sie an das Stück Blaubeerkuchen, das in ihrer großen Lederhandtasche verborgen liegt; bald darf sie nach Hause gehen und es in aller Ruhe aufessen - den Hüfthalter abnehmen, zur Normalität zurückkehren.
    Olive spürt, dass jemand im Zimmer ist, und schlägt die Augen auf. Ein Kind starrt sie von der Türschwelle an, eine der kleinen Nichten der Braut aus Chicago. Es ist die, die vor der Trauung eigentlich Rosenblätter auf dem Boden ausstreuen sollte, aber im letzten Moment doch keine Lust mehr hatte und schmollend in der Ecke stand. Dr. Sue hat nett reagiert, das muss man sagen, hat begütigend auf die Kleine eingeredet, dabei behutsam eine Hand um den Kopf des Kindes gewölbt und zuletzt einer Frau, die unter einem Baum wartete, gutgelaunt zugerufen: »Ach, fang einfach an«, worauf diese zu flöten begann. Und dann trat Suzanne neben Christopher - der nicht lächelte, steif wie ein Stück Treibholz -, und die beiden standen da, auf dem Rasen, und wurden getraut.
    Aber die Gebärde, dieses flinke Umfassen des kleines Kopfes, diese rasche Bewegung, mit der Suzanne das feine Haar und den schmalen Hals liebkost hat, ist Olive vor Augen geblieben. Es ist das Gleiche, wie wenn sie eine Frau von einem Boot ins Wasser springen und mühelos zum Steg schwimmen sieht. Eine Erinnerung daran, dass es Dinge gibt, die manchen gegeben sind und anderen nicht.

    »Hallo«, sagt Olive zu dem kleinen Mädchen, aber das Kind antwortet nicht. Nach ein paar Sekunden fragt Olive: »Wie alt bist du?« Sie kennt sich nicht mehr aus mit kleinen Kindern, aber sie schätzt dieses hier auf vier, vielleicht fünf; großgewachsen erscheint ihr bei den Bernsteins keiner.
    Das Kind sagt immer noch nichts. »Dann mal ab mit dir«, befiehlt Olive, aber das kleine Mädchen lehnt sich an den Türpfosten und schaukelt ein bisschen hin und her, ohne den Blick von Olive zu wenden. »Leute anstarren ist unhöflich«, sagt Olive. »Hat dir das niemand beigebracht?«
    Das kleine Mädchen, immer noch schaukelnd, sagt unbeeindruckt: »Du siehst aus, als ob du tot wärst.«
    Olive hebt den Kopf. »Lernt ihr heutzutage solche Sprüche in der Schule?« Aber sie spürt eine körperliche Reaktion, als sie sich wieder hinlegt, einen sachten Schmerz, der sekundenlang an ihrem Brustbein pulsiert, als schlüge unter ihren Rippen ein Flügel. Dem Gör gehört der Mund mit Seife ausgewaschen.
    Trotzdem, der Tag ist fast um. Olive starrt hinauf zu dem Oberlicht über dem Bett und sagt sich, dass sie ihn allem Anschein nach überlebt hat. Sie hat befürchtet, sie könnte heute, bei der Hochzeit ihres Sohnes, an einem neuerlichen Herzinfarkt sterben. In ihrer Vorstellung saß sie auf ihrem Klappstuhl auf dem Rasen, vor aller Augen, und in dem Moment, in dem ihr Sohn sagte: »Ja, ich will«, kippte sie lautlos und ungelenk ins Gras, Gesicht voran, den riesigen Hintern mit dem duftigen Geranienmuster hoch in die Luft gereckt. Die Leute hätten sich noch tagelang die Mäuler zerrissen.
    »Was sind das für Dinger in deinem Gesicht?«
    Olive dreht den Kopf zur Tür. »Bist du immer noch da? Ich dachte, du wärst weg.«
    »Aus dem einen kommen Haare raus«, sagt das Mädchen,
kecker nun, und macht einen Schritt ins Zimmer. »Dem an deinem

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