Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
herunterreißen, ihre Finger wie Krallen in den teuren dunklen Stoff dieser kleinen Kleidchen schlagen, die da so wichtig auf hölzernen Bügeln hängen. Und Pullover sind da, in verschiedenen Braun- und Grüntönen, säuberlich gefaltet in Hängefächern aus gestepptem Plastik. Einer von den untersten ist sogar beige. Herrgott, was ist so schlimm an ein bisschen Farbe ? Olive zittern die Finger vor Wut, aber auch, weil natürlich jeden Augenblick jemand den Gang entlangkommen und den Kopf zur offenen Tür hereinstrecken könnte.
Der beigefarbene Pullover ist dick, was gut ist, denn das heißt, das Mädchen wird ihn vor dem Herbst nicht tragen wollen. Olive schüttelt ihn aus und schmiert rasch einen schwarzen Filzstiftstrich längs über einen ganzen Ärmel. Dann klemmt sie den Stift zwischen die Zähne und faltet den Pullover hastig wieder zusammen, faltet ihn neu und noch einmal neu, damit man ja keinen Unterschied merkt. Aber sie schafft es. Niemand, der diesen Schrank öffnet, käme auf die Idee, dass jemand darin herumgewühlt hat, so schön ordentlich sieht alles aus.
Bis auf die Schuhe. Der ganze Boden des Schranks ist mit Schuhen bedeckt, und sie liegen wild durcheinander. Olive entscheidet sich für einen dunklen Halbschuh, so zerschrammt, als würde er oft getragen, und tatsächlich hat ihn Olive schon mehrmals an Suzanne gesehen; jetzt, wo sie einen Mann abgekriegt hat, denkt Olive, kann sie gemütlich in ausgelatschten Tretern herumschlunzen. Sie bückt sich - wobei sie einen Moment lang die Angst packt, sie könnte nicht mehr
hochkommen - und stopft den Schuh in ihre Handtasche, dann stemmt sie sich leicht keuchend wieder in die Vertikale und schiebt den in Alufolie gewickelten Blaubeerkuchen so zurecht, dass von dem Schuh nichts hervorschaut.
»Bist du so weit?«
In der Tür steht Henry, froh und mit glänzendem Gesicht, nun, da er seine Runden gedreht hat, eine Weile der Mann sein durfte, den alle mögen, ein absoluter Schatz . So gern sie ihm erzählen möchte, was sie mitgehört hat, so sehr es sie drängt, die einsame Last ihrer Tat mit jemandem zu teilen - sie wird nichts sagen.
»Sollen wir noch bei Dunkin’ Donuts vorbeifahren?«, fragt Henry und schaut sie mit seinen großen meerblauen Augen an. Er ist arglos. Das ist seine Art, das Leben zu meistern.
»Ach«, sagt Olive, »ich weiß gar nicht, ob ich jetzt noch einen Doughnut schaffe, Henry.«
»Wie du willst. Ich dachte bloß, weil du vorhin gesagt hast …«
»In Ordnung. Doch, fahren wir ruhig hin.«
Olive nimmt die Handtasche unter ihren dicken Arm und drückt sie fest an den Körper, als sie zur Tür geht. Viel hilft es nicht - aber ein klein bisschen schon - zu wissen, dass es Momente geben wird, in denen Suzanne an sich zweifelt. In denen sie ruft: »Christopher, bist du dir ganz sicher, dass du meinen Schuh nirgends gesehen hast?« In denen sie im Wäschekorb oder in ihrer Schublade sucht und eine leise Angst in sich aufflackern fühlt. »Ich verliere noch den Verstand … Wieso finde ich nichts mehr … Und, o Gott, was ist bloß mit meinem Pulli passiert?« Und sie wird es nie erfahren - wie denn auch? Wer malt schon auf einen Pullover, wer klaut einen BH, entführt einen einzelnen Schuh?
Der Pullover wird ruiniert sein und der Schuh verschwunden, so spurlos wie der BH, verschüttet unter benutzten
Papiertaschentüchern und alten Binden in dem Toiletteneimer bei Dunkin’ Donuts und am nächsten Tag von einem Container verschluckt. Überhaupt gibt es, wenn Dr. Sue in Olives Nähe wohnen bleibt, keinerlei Grund, warum Olive nicht ab und zu die eine oder andere Kleinigkeit mitgehen lassen soll - einfach um die Selbstzweifel wachzuhalten. Um sich ein wenig Auftrieb zu verschaffen. Christopher braucht keine Frau, die alles zu wissen glaubt. Kein Mensch weiß alles - deshalb sollte es sich auch niemand einbilden.
»Gehen wir«, sagt Olive, und sie klemmt sich die Handtasche noch fester unter den Arm und macht sich bereit für den Weg durchs Wohnzimmer. Im Geist sieht sie ihr Herz, diesen großen roten Muskel, dumpf pochend unter dem Blumenkleid.
Hunger
Am Sonntagvormittag unten beim Segelclub fiel es Harmon schwer, das Pärchen nicht anzustarren. Er hatte die zwei schon zuvor in der Stadt gesehen, als sie die Main Street entlanggeschlendert waren; die dünne Hand des Mädchens, am Gelenk umschlossen vom Kunstfellbündchen ihrer Jeansjacke, hatte locker in der des Jungen geruht, und dasselbe Selbstvertrauen, mit dem die
Weitere Kostenlose Bücher