Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
nach vorne schauen.
Zugleich brennt sie vor Scham, denn sie liebt dieses Kleid. Das Herz ist ihr aufgegangen, als sie den Musselin dazu bei So-Fro entdeckt hat. Wie Sonnenstrahlen, die in die bange Düsternis der näherrückenden Hochzeit fielen, so haben diese Blumen sich über den Tisch in ihrem Nähzimmer ergossen. Um zu diesem Kleid zu werden, das ihr den ganzen Tag solch ein Trost war.
Sie hört Suzanne etwas von Gastgeberpflichten sagen, und
dann fällt die Fliegentür zu, und es ist still im Garten. Olive drückt sich die flache Hand an die Backen, an den Mund. Sie muss zusehen, dass sie zurück ins Wohnzimmer kommt, ehe jemand sie hier findet. Sie wird sich hinunterbeugen und die Wange dieser Braut küssen müssen, die lächeln und von einem zum anderen schauen wird mit ihrem neunmalklugen Gesicht.
Oh, es schmerzt - so sehr, dass Olive auf ihrem Bett aufstöhnt. Was weiß Suzanne von einem Herzen, das zeitweilig so weh tut, dass es vor ein paar Monaten gestreikt hat - dass es fast aufgeben wollte? Gut, sie bewegt sich zu wenig, ihre Cholesterinwerte sind erschreckend hoch. Aber das alles hilft ihr doch nur zu bemänteln, dass es in Wahrheit ihre Seele ist, die nicht mehr kann.
Ihr Sohn ist letzte Weihnachten, bevor von Dr. Sue auch nur die Rede war, zu ihr gekommen und hat ihr erzählt, welche Gedanken ihn manchmal umtreiben. Manchmal überlege ich, ob ich nicht einfach Schluss machen soll …
Ein gespenstisches Echo auf die Worte ihres Vaters, vor neununddreißig Jahren jetzt. Nur dass Olive damals, als Frischverheiratete (mit ihrem eigenen Päckchen an Enttäuschungen und obendrein schwanger, wobei sie das zu dem Zeitpunkt nicht wusste), leichthin gesagt hat: »Ach, Vater, deprimiert ist doch jeder mal.« Die falsche Reaktion, wie sich zeigte.
Olive, immer noch auf der Bettkante, stützt das Gesicht in die Hände. Ihre Erinnerung an die ersten zehn Jahre von Christophers Leben ist verschwommen, aber einige Dinge weiß sie noch, die sie lieber vergessen hätte. Sie wollte ihm das Klavierspielen beibringen, und er verspielte sich in einer Tour. Es war seine Angst vor ihr, die sie so aus der Haut fahren ließ. Aber geliebt hat sie ihn! Das möchte sie Suzanne gern sagen. Sie möchte ihr sagen: Hör zu, Dr. Sue, tief in mir
sitzt etwas, und ab und zu pumpt es sich voll wie der Kopf eines Tintenfisches und stößt einen Schwall von Schwärze aus. Ich habe mir das nicht ausgesucht, aber so wahr mir Gott helfe, ich habe meinen Sohn geliebt.
Das ist die Wahrheit. Und wie sie ihn geliebt hat! Warum sonst ist sie mit ihm zum Arzt gegangen letzte Weihnachten, hat Henry daheim gelassen und saß mit dumpf klopfendem Herzen im Wartezimmer, bis er wieder herauskam - dieser erwachsene Mann, ihr Sohn -, mit erleichterter Miene und einem Rezept in der Hand? Die ganze Heimfahrt hat er ihr von Serotoninspiegeln und genetischer Veranlagung erzählt; so viel am Stück hat sie ihn womöglich noch nie reden hören. Wie ihr Vater ist auch er nicht der Gesprächigste.
Gläserklingen tönt den Gang entlang. »Auf zwei, die sich trauen«, ruft eine Männerstimme.
Olive richtet sich auf und streicht mit der Hand über die sonnenbeschienene Deckplatte der Kommode. Mit dieser Kommode ist Christopher aufgewachsen, der Fleck da stammt von der Flasche Wick-Erkältungsbalsam. Daneben liegen jetzt drei dicke schwarze Filzstifte und ein Stapel Ordner, handbeschriftet von Dr. Sue. Vorsichtig zieht Olive die oberste Schublade auf. Statt der Jungensocken und -T-Shirts von früher quellen ihr die Dessous ihrer Schwiegertochter entgegen, zerwühltes, schlüpfriges buntes Spitzenzeug. Olive zupft an einem Träger, und zum Vorschein kommt ein schimmernd blassblauer BH, kleinschalig und zart. Sie wendet ihn langsam in ihrer dicken Hand, knüllt ihn dann zusammen und versenkt ihn in den Tiefen ihrer Handtasche. Ihre Beine fühlen sich geschwollen an, kein gutes Zeichen.
Sie schaut zu den Filzstiften, die auf der Kommode liegen, neben Suzannes Ordnern. Miss Oberschlau, denkt Olive, und sie greift nach einem, schraubt den Deckel ab und riecht den Geruch nach Federmäppchen. Es juckt sie, damit dicke
Striche auf die helle Tagesdecke zu malen, die diese Braut angeschleppt hat. Ihr Blick wandert durch das usurpierte Schlafzimmer, am liebsten würde sie jeden Gegenstand, der im letzten Monat neu dazugekommen ist, einzeln markieren.
Olive geht zum Kleiderschrank und zieht die Tür auf. Die Kleider dort drinnen machen sie rabiat. Sie möchte sie
Weitere Kostenlose Bücher