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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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in die Daumenkuppe, die geschwollen war, eine dicke, hellrote Beule.
    »Nimm deinen Scheiß-Schädel runter«, sagte er zu Henry. »Und hör auf zu glotzen!«
    »Sie haben keinen Grund, so unflätig zu reden«, sagte Henry, den Blick zu Boden gerichtet, sein welliges Haar gegen den Strich gerauft.
    »Was laberst du da?« Die Stimme des Jungen überschlug sich fast. »Was für eine Scheiße laberst du da, Alter?«
    »Henry, bitte«, sagte Olive. »Sei ruhig, bevor wir noch alle dran glauben müssen.«
    Und dann dies: Blaumaske, der sich zu Henry vorbeugte, interessiert. »He, Alter. Ich hab dich was gefragt!« Und Henry, der das Gesicht zur Seite drehte, die dicken Brauen
zusammenschob. Blaumaske, der aufsprang und Henry die Pistole gegen die Schulter rammte. »Kannst du nicht antworten? Was für eine gottverdammte Scheiße war das?« (Und Olive, die jetzt an der Mühle abbog in Richtung Stadt, erkannte dieselbe blindwütige Frustration wieder, mit der sie selbst früher Christopher angeschrien hatte: Kannst du nicht antworten? Christopher, immer ein so stilles Kind, genauso still wie ihr Vater.)
    Aus Henry brach es heraus: »Ich hab gesagt, Sie haben keinen Grund, so unflätig zu reden.« Und dann: »Sie sollten sich schämen!« Worauf der Junge Henry die Waffe ans Gesicht hielt, sie mitten in seine Wange drückte, den Finger am Abzug.
    »Bitte!«, schrie Olive. »Bitte. Das hat er von seiner Mutter. Seine Mutter war unmöglich. Hören Sie gar nicht hin.«
    Ihr Herz hämmerte so, dass sie dachte, es müsste den knistrigen blauen Stoff ausbeulen. Der Junge stand da und starrte Henry an, dann machte er einen Schritt rückwärts, stolperte über die weißen Schuhe der Schwester. Er zielte weiter auf Henry, aber jetzt sah er Olive an. »Ist das dein Mann?«
    Olive nickte.
    »Hat der’n Rad ab, oder was?«
    »Er kann nichts dafür«, sagte Olive. »Sie hätten seine Mutter erleben sollen. Die triefte auch immer von so frommen Sprüchen.«
    »Das stimmt nicht«, widersprach Henry. »Meine Mutter war eine gute, anständige Frau.«
    »Halt dein Maul«, sagte der Junge müde. »Könnt ihr bitte alle das Maul halten.« Er setzte sich wieder auf den Klodeckel, die Beine gespreizt, und hielt die Pistole über dem Knie. Olives Mund war so trocken, dass sie das Wort Zunge dachte und dabei ein abgepacktes Stück Rinderzunge aus dem Laden vor sich sah.

    Unvermittelt zog sich der Junge die Sturmhaube vom Kopf. Und das Merkwürdige war, mit einem Mal schien ihr, als würde sie ihn kennen, als ergäbe nun, da sie ihn sah, alles einen Sinn . »Verfickte Scheiße«, sagte er leise. Seine Haut war gereizt durch die Hitze unter der Wolle. Über seinen Hals zogen sich rote Streifen und Flecken, hoch auf seinen Backenknochen glühte eine Kolonie von Eiterpickeln. Sein Kopf war geschoren, aber sie konnte sehen, dass er rothaarig war; sie erkannte es an dem Orangestich der Kopfhaut, an den vereinzelten rötlich sprießenden Härchen, dem zarten weißen Teint, der jetzt fast krebsrot leuchtete. Der Junge wischte sich das Gesicht am Nylonstoff seiner Armbeuge.
    »So eine Mütze hab ich meinem Sohn auch gekauft«, sagte Olive. »Er lebt in Kalifornien und fährt zum Skifahren in die Sierra Nevada.«
    Der Junge sah sie an. Seine Augen waren blassblau, die Wimpern nahezu farblos. Durch das Weiße in seinen Augen ästelten haarfeine rote Äderchen. Mit trübem Blick fixierte er Olive. »Halt’s Maul, bitte«, sagte er schließlich.
     
    Olive stellte sich ganz hinten auf den Parkplatz des Krankenhauses, mit Blick auf die blaue Tür der Notaufnahme, aber es gab keinen Schatten, und die Sonne brannte durch die Windschutzscheibe; trotz der offenen Fenster war ihr heiß. Die Hitze war natürlich nicht das ganze Jahr hindurch ein Problem gewesen. Im Winter hatte sie hier mit laufendem Motor gestanden. Nie für lang. Sie schaute einfach nur ein Weilchen zur Tür hinüber und dachte an das blitzend saubere Foyer, den riesigen Toilettenraum mit seinem Haltegriff aus blankem Chrom an einer Wand, einem Griff, an dem sich in dieser Sekunde vielleicht ein tatteriges altes Weiblein vom Klo hochzuziehen versuchte - diesem Griff, auf den Olive gestarrt hatte, während sie alle an der Wand saßen, die
Beine vor sich ausgestreckt, die Hände hinterm Rücken. In Krankenhäusern war es nichts Besonderes, wenn Leben umgekrempelt wurden. In einer der Zeitungen hatte gestanden, die Krankenschwester sei nicht in den Dienst zurückgekehrt, aber inzwischen war sie es

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