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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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so, wie Olive sich erinnerte, wiederholte die Schwester zum x-ten Mal: »Gesegnet sei die Frucht deines Leibes«, als Olive zu ihr sagte: »Verdammt, reicht’s nicht langsam mit diesem Mist?« Und Henry sagte: »Olive, hör auf.« Ergriff einfach die Partei der Schwester.
    So ganz wollte es Olive, die sich jetzt an einer roten Ampel nach der heruntergerutschten Tüte aus dem Stoffgeschäft bückte, bis heute nicht in den Kopf. Es wollte ihr nicht in den Kopf. Egal, wie oft sie die Szene in Gedanken durchspielte, sie verstand nicht, wie Henry Partei für die Schwester hatte ergreifen können. War es deshalb, weil die Schwester nicht geflucht hatte (jede Wette, dass sie fluchen konnte !) und Henry - verschnürt, wie er war, und drauf und dran,
erschossen zu werden - es Olive übelnahm, dass sie fluchte? Oder dass sie über Pauline hergezogen war, vorhin, als sie ihm das Leben zu retten versucht hatte?
    Nun, daraufhin hatte sie ein paar Dinge mehr über seine Mutter gesagt. Nachdem Schweinegesicht den Jungen zusammengestaucht hatte und dann wieder verschwunden war und sie alle wussten, dass er zurückkommen würde, um sie zu erschießen - in dieser verschwommenen, verdickten, schrecklichen Zeit nach Henrys »Olive, hör auf« hatte sie, Olive, ein paar Dinge über seine Mutter gesagt.
    Sie hatte gesagt: » Du bist doch hier derjenige, der diese ganze Rosenkranz-Katholizismus-Kacke nicht ausstehen kann! Das hast du doch von deiner Mutter gelernt! Pauline war ja die einzig wahre Christin der Welt, ihrer Meinung nach jedenfalls. Sie und ihr Mustersohn Henry. Ihr beiden wart doch die einzigen guten Christen auf der ganzen Dreckswelt!«
    Solche Sachen hatte sie gesagt. Sie hatte gesagt: »Weißt du, was deine Mutter den Leuten erzählt hat, als mein Vater tot war? Dass er eine Sünde begangen hätte! Christliche Nächstenliebe, dass ich nicht lache!« Der Arzt sagte: »Schluss jetzt. Hören wir alle auf damit«, aber es war, als wäre in Olives Innerem ein Schalter umgelegt worden und nun käme der Motor so richtig auf Touren. Wie ließ sich mit so etwas einfach aufhören?
    Sie sagte das Wort Jüdin . Sie weinte, alles ging durcheinander, und sie sagte: »Ist dir je der Gedanke gekommen, dass Christopher deshalb weggezogen ist? Weil er eine Jüdin geheiratet hat und wusste, dass sein Vater Vorurteile haben würde - ist dir das schon mal gekommen, Henry?«
    In die Totenstille im Raum, während der Junge auf dem Toilettensitz sein zerschundenes Gesicht in der Armbeuge verbarg, sagte Henry leise: »Das ist ein abscheulicher Vorwurf, Olive, und du weißt, dass es nicht stimmt. Er ist weggezogen,
weil du ihm keinerlei Luft mehr zum Atmen gelassen hast, seit dein Vater gestorben ist. Du hast ihn erdrückt. Verheiratet sein und mit dir in einer Stadt wohnen, das ging nicht.«
    »Sei still!«, sagte Olive. »Sei still, sei still!«
    Der Junge sprang auf, die Pistole hing herunter. »So eine verfickte Scheiße. Ver fickt , Mann!«
    Henry sagte: »O nein«, und Olive sah, dass Henry sich eingenässt hatte; ein dunkler Fleck breitete sich in seinem Schoß aus und kroch das Hosenbein entlang. »Jetzt beruhigen wir uns alle erst mal«, sagte der Arzt. »Versuchen wir uns zu beruhigen.«
    Und sie hörten das Krächzen von Walkie-Talkies draußen im Korridor, die klaren, unaufgeregten Stimmen von Männern, die die Situation im Griff hatten, und der Junge fing an zu weinen. Er weinte ganz unverhohlen, und er hielt die kleine Pistole, immer noch stehend. In seinem Arm zuckte es, eine versuchte Bewegung, und Olive flüsterte: »Nicht.« Bis an ihr Lebensende würde Olive sicher sein, dass der Junge die Waffe gegen sich selbst richten wollte, aber gleich darauf waren die Polizisten überall, verpackt in ihre dunklen Westen und Helme. Als sie das Klebeband um Olives Handgelenke aufschnitten, schmerzten ihre Arme und Schultern so, dass sie die Arme nicht hängen lassen konnte.
     
    Henry stand auf der Terrasse und sah hinaus über die Bucht. Sie hatte gedacht, er würde im Garten arbeiten, aber er stand einfach nur da und schaute aufs Wasser.
    »Henry.« Ihr Herz klopfte wie wild.
    Er drehte sich um. »Hallo, Olive. Da bist du ja. Du warst länger weg, als ich dachte.«
    »Ich hab Cynthia Bibber getroffen, und sie wollte und wollte nicht aufhören.«

    »Was gibt’s Neues bei ihr?«
    »Nichts. Nicht das Geringste.«
    Sie ließ sich auf den Liegestuhl fallen. »Hör zu«, sagte sie. »Ich erinnere mich nicht mehr. Aber du hast diese Frau

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