Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
herankommenden Auto die Vorfahrt genommen; sie sah es herankommen, und trotzdem wäre sie um ein Haar losgefahren. Der Fahrer schüttelte den Kopf, als ob sie nicht ganz dicht wäre. »Du mich auch«, sagte sie, aber sie wartete lieber noch, um nicht direkt hinter jemandem herfahren zu müssen, der sie gerade angeschaut hatte, als wäre sie nicht ganz dicht. Und dann beschloss sie, andersherum zu fahren, den langen Weg über Maisy Mills.
Der Mann mit dem Schweinegesicht war gegangen, und sie waren in dem Toilettenraum zurückgeblieben. (»Aber was soll das für einen Sinn haben?«, hatten diverse Leute kurz nach dem Vorfall zu den Kitteridges gesagt, nachdem sie es in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen hatten. »Was für einen Sinn hat das, wenn zwei Männer ein Krankenhaus stürmen, um an Drogen zu kommen?« Bevor sie irgendwann begriffen, dass aus den Kitteridges nichts über die Sache herauszubringen war. Seit wann geht es bei so etwas um den Sinn, hätte Olive fragen können.) Der mit dem Schweinegesicht ging, und der Blaumaskierte langte nach dem Türknauf und verriegelte die Tür mit demselben Klicken, mit dem auch Olive sie vor gar nicht langer Zeit verriegelt hatte. Er setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel, den Oberkörper vorgebeugt, die Beine gespreizt, in der Hand eine kleine, eckige Pistole. Wie aus Zinn sah sie aus. Olive dachte, ihr würde übel; sie würde an dem Erbrochenen ersticken, es ging gar nicht anders. Da sie außerstande
war, ihren unförmigen, handlosen Leib zu bewegen, würde sie ihren Mageninhalt einatmen, wenn er hochstieg, und das mit einem Arzt gleich neben sich, der ihr nicht würde helfen können, weil auch er gefesselt war. Ja, mit einem Arzt an ihrer Seite und einer Krankenschwester ihr gegenüber würde sie an ihrem Erbrochenen ersticken wie ein Besoffener. Und Henry würde es mit ansehen müssen und niemals wieder derselbe sein wie zuvor. Allen fällt auf, wie verändert Henry ist. Sie übergab sich nicht. Die Schwester hatte schon geweint, als Olive durch die Tür geschubst worden war, und sie weinte immer noch. So einiges ging auf das Konto der Schwester.
Irgendwann hatte der Arzt, der mit einem Bein auf den zerdrückten Schößen seines weißen Kittels saß, gefragt: »Wie heißen Sie?«, mit der gleichen liebenswürdigen Stimme wie zuvor, als er mit Olive geredet hatte.
»Fick dich«, sagte Blaumaske, »okay?«
Und immer wieder dachte Olive zwischendurch: Daran erinnere ich mich ganz klar, aber später hatte sie keine Ahnung mehr, wann sie das gedacht hatte. Dann wieder Farbschlieren: Sie schwiegen. Sie warteten. Olives Beine hatten aufgehört zu zittern. Draußen klingelte ein Telefon. Es klingelte und klingelte, dann verstummte es. Fast im selben Augenblick fing es erneut zu klingeln an. Ihre Kniescheiben standen wie große verbeulte Untertassen unter dem blauen OP-Hemd hervor. Sie bezweifelte, dass sie sie hätte identifizieren können, wenn jemand ihr eine Fotostrecke mit dicken Altfrauenknien vorgelegt hätte. Die Knöchel und die Zehenknubbel, die in die Zimmermitte ragten, kamen ihr da schon vertrauter vor. Die Beine des Arztes waren kürzer als ihre, und seine Schuhe wirkten sehr klein. Es hätten Kinderschuhe sein können, so unauffällig waren sie. Braunes Leder und Gummisohlen.
Unter Henrys hochgerutschtem Hosensaum sah man die Leberflecken auf seinem weißen, haarlosen Schienbein. Er
sagte: »Ach je.« Leise. Dann: »Können Sie meiner Frau nicht vielleicht eine Decke verschaffen? Ihre Zähne klappern.«
»Sind wir hier im Hotel, oder was?«, sagte Blaumaske. »Halt’s Maul, ja?«
»Aber sie ist …«
»Henry«, sagte Olive scharf. »Sei still.«
Die Schwester schluchzte leise vor sich hin.
Nein, Olive konnte keine Reihenfolge in die Kleckse bringen, aber Blaumaske war auf jeden Fall nervös; sie hatte gleich zu Anfang gemerkt, dass er eine Heidenangst hatte. Er wippte ununterbrochen mit den Knien. Jung - auch das hatte sie gleich gesehen. Als er die Ärmel seiner Nylonjacke hochschob, glänzten die Handgelenke darunter von Schweiß. Und dann sah sie, dass er fast keine Fingernägel hatte. Niemals, in all ihren Jahren als Lehrerin nicht, waren ihr Finger nägel untergekommen, die so radikal abgekaut waren. Immer wieder wanderten seine Fingerspitzen in Richtung Mund, mit wütendem Nachdruck schob er sie durch den Schlitz in der Sturmhaube; sogar die Hand mit der Waffe zuckte zwischendrin hoch zu seinem Mund, und dann biss er hastig
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