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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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vielleicht ja doch. Über den Arzt hatte Olive nichts gehört.
    Der Junge stand unablässig vom Klodeckel auf und setzte sich wieder hin. Wenn er saß, hockte er vornübergebeugt, die Pistole in einer Hand, die andere vor dem Mund gekrümmt, und biss hektisch an den Fingerkuppen herum. Die Sirenen heulten nicht sehr lange. Das dachte sie, aber vielleicht hatten sie ja doch lange geheult. Dem Apotheker war es gelungen, einen der Hausmeister anzufunken, der daraufhin die Polizei verständigte, eine Spezialeinheit, die mit dem Mann mit dem Schweinegesicht verhandeln sollte, aber das wussten sie zu dem Zeitpunkt nicht. Irgendwo fing ein Telefon immer wieder zu läuten an und verstummte. Sie warteten, die Schwester legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen.
    Olives kleine weiße Schleife hatte sich gelöst. Die Erinnerung daran war ein Klecks dicker, zäher Farbe. Durch irgendetwas hatte sich die Schleife gelöst, und das knistrige Hemd stand offen. Sie schlug ein Bein über das andere, aber nun klafften die Enden noch weiter auseinander, und sie konnte ihren wabbelnden Bauch mit seinen Falten sehen und ihre Schenkel, weiß wie zwei pralle Fischleiber.
    »Also hören Sie mal«, sagte Henry. »Können Sie meine Frau nicht irgendwie ein bisschen zudecken. Man sieht ja alles.«
    »Halt den Mund, Henry«, sagte Olive. Die Schwester öffnete die Augen und starrte herüber, und der Arzt schaute natürlich auch. Alle schauten sie jetzt Olive an. »Herrgott noch mal, Henry.«
    Der Junge beugte sich vor und sagte leise zu Henry: »Sei
still, sonst pust ich dir das Hirn raus. Dein verficktes Scheißhirn«, fügte er hinzu.
    Er richtete sich wieder auf. Er sah sich um, sein Blick streifte Olive, er sagte: »Scheiße, muss das sein, Lady«, und einen Moment lang schien es ihm zutiefst peinlich.
    »Was soll ich denn machen«, fragte sie wütend - oh, war sie wütend, und wenn zuvor ihre Zähne geklappert hatten, spürte sie jetzt Schweiß über ihr Gesicht laufen. Sie fühlte sich wie ein großer triefender Sack, randvoll gefüllt mit Wut und Panik. Sie schmeckte Salz und wusste nicht, ob es Tränen waren oder Schweißbäche.
    »Eins sag ich euch.« Der Junge holte tief und rasch Atem. Er stand auf und kauerte sich vor sie hin, legte die Waffe auf den gefliesten Boden. »Wer sich rührt, wird abgeknallt.« Er sah im Kreis. »Ich brauch nur eine Sekunde.« Und hastig zog er die Enden ihres blauen OP-Hemds übereinander und verknotete das weiße Plastikbändchen mitten auf ihrem Bauch. Sein geschorener Schädel mit dem glitzernden Anflug rötlichen Gestoppels war dicht vor ihr. Die Haut oben an der Stirn war noch immer gereizt von der Sturmhaube. »Okay«, sagte er. Er nahm die Pistole und kehrte zurück auf seinen Klodeckel.
    Dieser Augenblick, als er sich wieder hinsetzte und sie wollte, dass er sie anschaute - das war ein deutlicher Farbklecks auf ihrem Gedächtnis. Dieser eine Augenblick, in dem sie nichts mehr wünschte, als von ihm angeschaut zu werden, aber er schaute nicht her.
     
    Olive ließ den Motor an und fuhr vom Parkplatz herunter. Sie fuhr an einem Drogeriemarkt vorbei, am Doughnut-Laden, an einer Modeboutique, die es schon eine Ewigkeit gab, und dann weiter über die Brücke. Geradeaus ging es zu dem Friedhof, auf dem ihr Vater begraben lag. Letzte Woche
hatte sie ihm Flieder aufs Grab gestellt, obwohl sie normalerweise mit Gräberschmücken nicht viel am Hut hatte. Pauline war in Portland begraben, und dieses Jahr am Memorial Day hatte Olive Henry zum ersten Mal nicht begleitet, um Paulines Grab mit Geranien zu bepflanzen.
    Von draußen war an die Toilettentür gehämmert worden, dann die drängende Stimme: »Mach auf, wird’s bald, ich bin’s!« Und dann hatte sie gesehen - Henry von seinem Platz konnte es nicht sehen, aber sie schon -, wie der Junge, kaum dass er die Tür öffnete, einen Hieb mit dem Gewehr abbekam, einen brutalen Hieb mitten ins Gesicht, und der mit dem Schweinegesicht schrie: »Wo ist deine Maske? Du gehirnamputiertes Arschloch!« Brüllte. »Du krankes Stück Scheiße!« Und sofort spürte sie, wie alles sich verdickte, ihre Gliedmaßen, ihre Augenmuskeln, die Luft um sie herum; ein zähes, langsames Unwirklichkeitsgefühl machte sich breit. Denn jetzt mussten sie sterben. Sie hatten gedacht, sie würden davonkommen, aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Schweinegesichts angstverzerrte Stimme sagte alles.
    Die Schwester begann schnell und laut das Ave-Maria zu beten, immer wieder, und

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