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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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waren nicht mehr jung, das war der Punkt. Sie versicherten es sich gegenseitig, als könnten sie es nicht glauben. Aber sie hatten beide im letzten Jahr einen leichten Herzinfarkt gehabt, erst sie - ein Gefühl, sagte sie, als hätte sie zum Abendessen zu viele von den gegrillten Zwiebeln gegessen. Und dann er, ein paar Monate später und mit einem völlig anderen Gefühl, eher, als hätte sich jemand auf
seinen Brustkorb gesetzt, aber mit dem gleichen Schmerz im Unterkiefer wie sie.
    Jetzt merkten sie kaum mehr etwas davon. Aber sie war zweiundsiebzig und er fünfundsiebzig, und wenn nicht ein Dach sie beide unter sich begrub, würde eines Tages aller Voraussicht nach einer ohne den anderen zurückbleiben.
    Alle Auslagen funkelten von Lichtern, und die Luft roch nach Schnee. Er nahm Janes Arm, und sie bummelten die Straße entlang, wo Stechpalmengestecke oder Kränze die Restaurantfenster schmückten; manche Scheiben waren an den Ecken mit Weiß besprüht. »Die Lydias«, sagte Jane. »Wink, Liebling.«
    »Wo?«
    »Wink einfach, Liebling. Da drüben.«
    »Wieso soll ich denn winken, wenn ich nicht sehe, wem?«
    »Die Lydias, gleich hier in dem Steakhaus. Die haben wir ja ewig nicht gesehen.« Jane winkte fröhlich, übertrieben. Jetzt sah er die beiden im Fenster sitzen, an einem weiß gedeckten Tisch, und auch er winkte. Mrs. Lydia machte ihnen Zeichen, hereinzukommen.
    Bob Houlton schob seinen Arm durch den von Jane. »Ich will nicht«, sagte er und winkte mit der freien Hand hinein zu den Lydias.
    Jane winkte wieder, kopfschüttelnd und gestikulierend, wobei sie die Worte übertrieben mit den Lippen formte: »Bis nach-her. Beim Kon-zert?« Nicken. Noch mehr Winken, dann gingen sie weiter. »Sie sieht gut aus«, sagte Jane. »Ich war richtiggehend überrascht, wie gut sie aussieht. Sie muss sich die Haare gefärbt haben.«
    »Hättest du reingehen wollen?«
    »Nein«, sagte Jane. »Lieber Schaufenster gucken. Es ist schön hier draußen, nicht zu kalt.«
    »Dann setz mich mal ins Bild«, sagte er im Weitergehen,
in Gedanken noch bei den Lydias, die in Wirklichkeit nicht Lydia hießen, sondern Granger - Alan und Donna Granger. Die Tochter, Lydia Granger, war mit der mittleren Tochter der Houltons befreundet gewesen und Patty Granger mit der jüngsten. Bob und Jane verwendeten bis zum heutigen Tag die Namen der Kinder, wenn sie von den Eltern der Freundinnen ihrer Töchter sprachen.
    »Lydia ist jetzt schon seit ein paar Jahren geschieden. Ihr Mann hat sie gebissen. Das ist aber ein Geheimnis, glaube ich.«
    »Sie gebissen?«
    »Gebissen.« Jane schlug zweimal die Kiefer aufeinander. »Mampf, mampf. Ich glaube, er war Tierarzt.«
    »Hat er die Kinder auch gebissen?«
    »Die Kinder nicht, soviel ich weiß. Zwei Kinder. Das eine ist so ein Zappelphilipp, hyperaktiv oder wie das heutzutage heißt, wenn ein Kind nicht stillsitzen kann. Die Lydias werden es nicht erwähnen, also fang nicht davon an. Ich weiß es auch nur von der Frau in der Bücherei, der mit den rosa Haaren. Gehen wir rein. Ich möchte einen Platz gleich am Gang.«
    Seit ihrem Herzinfarkt hatte Jane Angst davor, in der Öffentlichkeit zu sterben. Sie hatte ihren Herzinfarkt daheim in der Küche erlitten, aber die Vorstellung, sie könnte vor aller Augen umkippen, war ihr entsetzlich. Vor Jahren hatte sie das einmal erlebt, einen Mann, der tot auf dem Gehsteig lag. Die Sanitäter hatten ihm das Hemd aufgerissen, und es konnte sie noch immer zum Weinen bringen, wenn sie es sich nur deutlich genug ausmalte: die zurückgeworfenen Arme, so rührend arglos, so leblos ; der entblößte Bauch. Armes altes Ding, hatte sie gedacht, liegt da und ist tot.
    »Und ich möchte nicht zu weit vor«, sagte ihr Mann. Sie nickte. Seine Verdauung war nicht mehr, was sie einmal
gewesen war, das zwang ihn bisweilen zu einem überhasteten Aufbruch.
    Die Kirche war dunkel und kalt, fast leer noch. Sie gaben ihre Karten ab und bekamen Programmzettel ausgehändigt, die sie unschlüssig zwischen den Fingern hielten, während sie zu einer der hinteren Bänke gingen und dort Platz nahmen; die Mäntel knöpften sie auf, ließen sie aber an.
    »Siehst du irgendwo die Lydias?«, sagte Jane und reckte sich.
    Er hielt ihre Hand, tippte nervös an ihren Fingerspitzen herum.
    »War das Lydia, die eine Zeitlang jedes Wochenende bei uns übernachtet hat, oder ihre Schwester?«, fragte er, während Jane den Kopf in den Nacken legte und zur Kirchendecke emporblickte, hinauf in das hohe, dunkle

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