Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Kapuzensweatshirt und der Jeans, in denen sie auch geschlafen hatte. Julie hatte die Hände in die Hosentaschen gebohrt, und Winnie, deren Schwesternliebe sich seit kurzem fast zur Schwärmerei gesteigert hatte, versuchte unauffällig, ihre Hände genauso in die Hosentaschen zu stecken wie sie, auf genau die gleiche wurstige Art wie sie am Küchentisch zu lehnen und alles an sich abprallen zu lassen, was zu ihr gesagt wurde.
»Nur als Beispiel«, fuhr ihre Mutter fort. »Was für Pläne hast du heute?« Sie hörte auf, an der Arbeitsplatte herumzuwischen und schaute Julie an. Julie sah nicht auf. Winnies Gefühle waren erst ganz frisch von ihrer Mutter zu ihrer Schwester umgeschwenkt. Ihre Mutter hatte Schönheitswettbewerbe gewonnen, bevor Julie zur Welt kam, und Winnie fand sie auch jetzt noch ziemlich hübsch. Die hübscheste Mutter zu haben, das war so, als würde man mehr Süßigkeiten kriegen als andere Leute, oder mehr Sterne ins Hausaufgabenheft.
Die meisten anderen Mütter waren dick oder hatten blöde Frisuren, oder sie trugen die Flanellhemden ihrer Männer über Jeans mit elastischem Bund. Anita ging nie ohne Lippenstift und hohe Absätze aus dem Haus, nie ohne ihre Ohrringe mit den Kunstperlen. Nur hatte Winnie neuerdings immer öfter das unheimliche Gefühl, dass irgendetwas mit ihrer Mutter nicht stimmte, nicht ganz jedenfalls; dass die Leute hinter ihrem Rücken die Augen über sie verdrehten. Sie wünschte sich glühend, dass es nur Einbildung war, und vielleicht war es das ja - sie wusste es einfach nicht.
» Genau deshalb?«, sagte Julie und sah auf. »Im Gefängnis und beim Militär? Mom, ich sterbe hier, und du faselst irgendwelches Zeug.«
»Sprich nicht leichtfertig vom Sterben, Herzchen. Manche Leute sterben in diesem Moment wirklich, und zwar unter Qualen. Die würden liebend gern mit dir tauschen - von ihrem Verlobten sitzengelassen zu werden wäre für sie, als hätte eine Mücke sie gestochen. Seht mal. Euer Vater ist daheim«, sagte Anita. »Wie lieb. Kommt mitten an einem Werktag nach Hause, um nach dir zu schauen.«
»Um nach dir zu schauen«, berichtigte Julie. Und fügte hinzu: »Und dass er mich sitzenlassen hat, stimmt so auch nicht.« Winnie zog die Hände aus den Taschen.
»Wie geht’s, wie steht’s? Alles in Butter?« Jim Harwood war von schmächtigem Wuchs und eine Frohnatur, wie sie im Buche stand. Er hatte früher getrunken und ging dreimal die Woche zu den Anonymen Alkoholikern. Er war nicht Julies Vater (der sich mit einer anderen Frau davongemacht hatte, als Julie noch klein war), aber er war lieb zu ihr, so wie zu allen. Ob er bei der Hochzeit mit ihrer Mutter noch getrunken hatte oder schon nicht mehr, wusste Winnie nicht. Er arbeitete, seit sie denken konnte, als Hausmeister in der
Schule. »Haus techniker «, hatte ihre Mutter einmal gesagt, zu Julie. »Und merk dir das, ja?«
»Uns geht’s gut, Jim«, sagte Anita jetzt und hielt ihm die Tür auf, als er mit einer Tüte voller Lebensmittel hereinkam. »Schaut euch das an, Kinder. Euer Vater war für uns einkaufen. Julie, warum machst du uns nicht ein paar Pfannkuchen?«
Es war Brauch bei ihnen, dass es am Sonntagabend Pfannkuchen gab; jetzt war Freitagmittag.
»Ich hab keine Lust, Pfannkuchen zu machen«, sagte Julie. Sie hatte lautlos zu weinen begonnen und wischte sich mit den Händen im Gesicht herum.
»Tja, zu dumm«, sagte ihre Mutter. »Julie, Schätzchen. Wenn du nicht aufhörst mit dem Geheule, dreh ich durch.« Anita warf den Schwamm in die Spüle. »Ich dreh durch, hast du gehört?«
»Mom, Herrgott noch mal.« »Und hör auf zu fluchen, Schätzchen. Gott hat alle Hände voll zu tun, auch ohne dass du seinen Namen unnütz führst. Feste Abläufe, Julie. Ohne feste Abläufe klappt im Gefängnis und beim Militär gar nichts.«
Winnie sagte: »Ich mach die Pfannkuchen.« Sie wollte, dass ihre Mutter aufhörte, von Gefängnissen und Militär zu reden. Ihre Mutter sprach ununterbrochen von Gefängnissen und vom Militär, seit diese Fotos von den Häftlingen im Ausland bekannt geworden waren, die Säcke überm Kopf trugen und von amerikanischen Soldaten an der Leine geführt wurden wie Hunde.
»Wir kriegen genau das, was wir verdienen«, hatte ihre Mutter vor ein paar Monaten im Lebensmittelladen mit erhobener Stimme zu Marlene Bonney gesagt. Und Cliff Mott, der an seinem Pick-up einen Sticker mit einer großen, gelben Schleife kleben hatte, für seinen Enkel in Übersee, war hinter
dem Regal mit den
Weitere Kostenlose Bücher