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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Frühstücksflocken hervorgeschlurft und hatte gesagt: »Behalt deine Verrücktheiten für dich, ja, Anita?«
    »In Ordnung, Winnie«, sagte ihre Mutter. »Mach du die Pfannkuchen.«
    »Soll ich dir helfen?«, fragte ihr Vater. Er hatte eine Schachtel mit Eiern aus der Einkaufstüte genommen und beugte sich über den Tisch, um das Radio einzuschalten.
    »Nein«, sagte Winnie. »Ich kann’s schon allein.«
    »Ja«, sagte ihre Mutter. »Jim, hol die Schüssel.«
    Er holte die Rührschüssel aus dem Küchenschrank, während Frank Sinatras Stimme an- und wieder abschwoll, »Myyyy waaayy«.
    »O bitte«, sagte Julie. »Bitte, bitte, bitte stellt das ab.«
    »Jim«, sagte Anita. »Schalt das Radio aus.«
    Winnie war es, die den Arm langmachte und das Radio ausschaltete. Sie wollte, dass Julie es bemerkte, aber die sah gar nicht hin.
    »Julie, Schätzchen«, sagte ihre Mutter, »das kann nicht endlos so weitergehen. Die Familie hat ein Recht darauf, Radio zu hören. Ich meine, irgendwann.«
    »Es sind jetzt vier Tage«, sagte Julie. Sie wischte sich mit dem Sweatshirtärmel über die Nase. »Also echt.«
    »Sechs«, sagte ihre Mutter. »Heute ist der sechste Tag.«
    »Mom, bitte. Lass mich einfach.«
    Winnie fand, jemand sollte ihr eine Beruhigungstablette geben. Onkel Kyle hatte ein paar vorbeigebracht, aber ihre Mutter rückte nur noch abends welche heraus, und auch dann nur halbe. Manchmal wachte Winnie auf und spürte genau, dass Julie wachlag. Gestern Nacht war Vollmond gewesen, und ihr ganzes Zimmer hatte weiß geschimmert. »Julie«, hatte Winnie geflüstert. »Bist du wach?«
    Keine Antwort.

    Winnie hatte sich umgedreht und den Mond angeschaut, der durchs Fenster hereinschien. Er war riesengroß, wie eine dicke Blase hing er überm Wasser. Wenn ein Vorhang da gewesen wäre, hätte Winnie ihn zugezogen, aber es gab keine Vorhänge bei ihnen. Ihr Haus stand ganz am Ende einer langen Schotterstraße, und ihre Mutter war der Meinung, dass sie keine Vorhänge brauchten; stattdessen hatte sie vor einem Jahr zur Dekoration ein Fischernetz um die Wohnzimmerfenster drapiert. Winnie und Julie hatten zum Meer hinunterlaufen müssen, um Seesterne zu sammeln, Seesterne in allen Größen, die sie trocknen und in dem Vorhangnetz feststecken wollte. Julie und Winnie waren über den Seetang gestakst und hatten Steine umgedreht, bis sie einen Stapel gänsehäutiger Seesterne beisammen hatten.
    »Das macht sie wegen ihrem Vater - und wegen meinem«, hatte Julie gesagt. Julie war die Einzige, die Winnie solche Sachen erzählte. »Sie vermisst sie beide immer noch. Ihr Vater hat ihr jeden Abend Seesterne mitgebracht, als sie noch klein war. Das hat sie sich von Ted später auch gewünscht, und eine Zeitlang hat er’s gemacht.«
    »Aber das ist doch ewig her«, sagte Winnie und löste einen Seestern von einem Felsen ab, einen kleinen; ein Bein blieb kleben, als sie zog. Sie setzte den Seestern wieder auf den Stein. Seesternbeine wuchsen nach, wenn sie abrissen.
    »Egal«, sagte Julie. »Wenn man jemanden vermisst, dann vermisst man ihn.«
    Ihr Großvater war ein Fischer gewesen, dessen Boot auf einer Klippe aufgelaufen war. Der Zeitungsausschnitt klebte im selben Sammelalbum wie die Fotos von Anita als Kartoffelkönigin. »Sie hieß bei den Leuten Miss Frittentitte«, erzählte Julie Winnie. »Das hat sie mir gesagt, aber sag ihr nicht, dass du’s weißt.« Anita hatte Ted, einen Schreiner, geheiratet, weil Julie unterwegs war, aber Ted war nicht der Typ, der es
lange bei ein und derselben Frau aushielt. Das hätte er von Anfang an klargestellt, sagte Julie. »Das heißt, sie hat in nur ein paar Jahren beide verloren.« Julie schaute in den Eimer mit den Seesternen. »Das reicht jetzt. Gehen wir.« Und auf dem Rückweg über die Felsen fügte Julie hinzu: »Bruce hat mir erzählt, dass die wenigsten Fischer schwimmen können. Komisch, dass ich das gar nicht wusste.«
    Es wunderte Winnie, dass Bruce es wusste; er kam nicht von hier. Er war aus Boston und hatte zusammen mit seinen Brüdern für einen Monat ein Ferienhäuschen gemietet, und Winnie fragte sich, woher er wissen wollte, ob Fischer schwimmen konnten oder nicht.
    »Konnte er schwimmen?«, fragte Winnie Julie. Sie meinte ihren Großvater, aber sie hatte keinen Namen für ihn, weil er bei ihnen nie erwähnt wurde.
    »Nein. Er musste mit diesem anderen Mann im Boot sitzen und zuschauen, wie das Wasser stieg. Er wusste, dass er ertrinken würde. Ich glaube, das ist das, was Mom

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